Liebe Leserin, lieber Leser,
in einem Artikel in der Pharmazeutischen Zeitung unter dem Titel „Wie häufig sind Spaßverordnungen?“ versuchten Dr. Andreas Kiefer, Präsident der Bundesapothekerkammer, und Dr. Dirk Bodendiek, Präsident der Ärztekammer Sachsen, einen Teil der Ärzte, die Cannabis verordnen, zu diskreditieren. Die Deutsche Apotheker Zeitung stellt in einem Bericht über die gleiche Veranstaltung mit dem Thema „Cannabis als Medizin – Gefahren des Missbrauchs?“ die Frage: „Gibt es einen Glaubenskrieg in der Cannabistherapie?“
Vertreter der Landesärztekammer Sachsen, der Dr. Bodendiek vorsitzt, haben sich bisher in der Diskussion zum therapeutischen Potenzial von Cannabis vor allem dadurch einen Namen gemacht, dass sie dieses Potenzial gering schätzen, dass Missbrauchspotenzial jedoch hoch. Herr Dr. Kiefer neigt als Vertreter der Apotheker dazu, Patienten, die unverarbeitete Blüten verwenden anstatt Zubereitungen nach Rezepturvorschriften seines Verbandes unter Missbrauchsverdacht zu stellen. Es ist verständlich, dass die Sponsoren der Veranstaltung, Bionorica Ethics (Hersteller von Dronabinol) und Tilray (Hersteller standardisierter Extrakte) vor allem Personen eingeladen haben, die ihre Position unterstützen und damit den Umsatz ihrer Produkte fördern. Einzig Professor Dr. Joachim Nadstawek, Schmerztherapeut aus Bonn, der als einziger der Diskutanten praktische Erfahrung mit der Therapie hat, hat dagegen gehalten und darauf hingewiesen, dass Kostenübernahmeanträge zu häufig abgelehnt werden. Das ist die Realität. Das ist die Erfahrung, die viele Ärzte und Patienten machen.
Es geht nicht um einen Glaubenskrieg, sondern um Verteilungskämpfe innerhalb der Cannabisindustrie. Es geht um Marktanteile und Profite. Das wissen auch alle Beteiligten. Nach meiner Auffassung soll auch Geld verdient werden, damit die Firmen mit Enthusiasmus arbeiten und die Forschung vorantreiben können. Das Patientenwohl muss allerdings im Vordergrund stehen. Das kommt in der Debatte häufig zu kurz.
Zum Thema Missbrauch hier einige Anmerkungen:
1. Alle Medikamente, die psychische Wirkungen verursachen, darunter Benzodiazepine, Opiate und Amphetamine werden missbraucht. Und die Quelle sind häufig verschreibende Ärzte. Das wird es auch bei cannabisbasierten Medikamenten geben. Allerdings habe ich aufgrund der Rückmeldungen, die ich erhalte, eher den Eindruck, dass viele Ärzte bereitwillig Benzodiazepine, Neuroleptika, Opiate und Methylphenidat verschreiben und bei Cannabis eher zurückhaltend sind. Es ist daher absurd, im Zusammenhang mit Missbrauch vor allem Cannabis hervorzuheben. Der Benzodiazepin-Verbrauch in Deutschland und die massenhafte Verschreibung von Methylphenidat sowie die Opiat-Epidemie in den USA legen eher nahe, dass diese Substanzklassen ein Problem darstellen. Es ist natürlich richtig, auch bei Cannabis wachsam zu sein. Die Ärzteschaft sollte allerdings mit der Missbrauchskeule begründete Eingriffe in die Therapiehoheit entschieden zurückweisen.
2. Dr. Kiefer betrachtet die hohe Zahl der Verschreibungen unverarbeiteter Cannabisblüten „mehr als einen deutlichen Hinweis“, dass diese nicht nur rational und therapeutisch eingesetzt werden. Dieser Schluss ist unzulässig. Alle verfügbaren Präparate haben ihren Platz in der modernen Medizin, isolierte Cannabinoide, standardisierte Extrakte, Zubereitungen in der Apotheke und unverarbeitete Blüten. Es gibt eine rationale Therapie mit Cannabisblüten, wenn diese der Therapie mit anderen Präparaten überlegen, weil variabler in den Möglichkeiten ist. Dieser Vorwurf wird noch absurder, wenn man die Situation in Deutschland mit anderen Ländern vergleicht, in denen standardisierte Präparate eine untergeordnete Rolle spielen. Auch in diesen Ländern wird von Ärzten mit Cannabis eine gute Medizin betrieben.
3. Ich kann nachvollziehen, dass Ärzte wie Dr. Bodendiek aufgrund ihrer Cannabisängste keine Gelegenheit verstreichen lassen, um die Möglichkeiten der Therapie mit cannabisbasierten Medikamenten wieder einzuschränken und das Rad zurückzudrehen. Wer diese Position einnimmt, verhindert, dass vielen Patienten eine wirksame Therapie erhalten. Das kann nicht im Interesse verantwortlicher Personen in Politik und Gesundheitswesen sein. Im Gegenteil: Wir erleben als Ärzte im Alltag, dass die bestehende Rechtslage unzureichend ist, weil vielen verzweifelten Patienten eine solche Behandlung vorenthalten wird. Viele Ärzte sind bereits heute frustriert, dass sie sich häufig kaum gegen die Krankenkassen bzw. den MDK, der am Schreibtisch entscheidet, durchsetzen können.
4. Wer Patienten, die sich in ihrer Not früher illegal behandelt haben, weil es keine ausreichenden legalen Möglichkeiten gab, ihre Selbstmedikation vorhält und als Missbrauch diskreditiert, verwechselt Recht und Rechtslage. Es war ein Unrecht, diesen Patienten vor 10, 20 oder 30 Jahren keine legale Therapieoption zu eröffnen. Bereits am 31. Juli 2000 befand das Berufungsgericht von Ontario Kanadas Cannabisgesetz für „verfassungswidrig“, weil es die Bedürfnisse kranker Kanadier, die das Medikament als Arzneimittel verwenden, nicht berücksichtigte. Die Richter stellten fest, dass das völlige Verbot von Cannabis Patienten zwinge, zwischen Gesundheit und Gefängnis zu wählen. Wer diesen Patienten ihr illegales Handeln vorwirft, vergisst, dass die Rechtslage ein Unrecht darstellte. Fast niemand – mit Ausnahme ausgeprägter Homophobiker – käme heute auf die Idee, Homosexuellen vorzuwerfen, dass sie auch schon vor 30 Jahren homosexuell waren. Wenn es um Cannabis geht, scheint es vielen Teilnehmer in die Debatte jedoch leicht zu fallen, das damalige Unrecht aus zu blenden.
Schätzungen liegen jetzt bei 40.000 Patienten, die cannabisbasierte Medikamente in Deutschland einsetzen. Damit sind deutsche Patienten weiterhin völlig unzureichend mit entsprechenden Präparaten versorgt. Zahlen aus anderen Industrieländern zeigen, dass der Bedarf bei 1 bis 2 % der Bevölkerung liegt. Das entspricht für Deutschland 800.000-1.600.000 Bürger.
Wir sind erst am Anfang einer notwendigen Entwicklung. Wer diese Entwicklung bremsen will, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er Patienten in Deutschland weiterhin eine wirksame Therapie ihrer chronischen Erkrankung vorenthalten will. Denn darum geht es. Es geht um eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung. Dann kann auch ruhig Geld damit verdient werden.
Viel Spaß beim Lesen!
Franjo Grotenhermen