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ACM-Mitteilungen vom 25. Februar 2017
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Liebe Leserin, lieber Leser,
nun werden auch vermehrt Ärzte und Apotheker über die Neuerungen in Ihren Fachzeitschriften und Publikationen informiert, die das Gesetz zu Cannabis als Medizin mit sich bringen wird. Wir dokumentieren einen 3-seitigen Artikel der aktuellen Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts sowie einen Beitrag im Online-Portal für Apotheker (Apotheke adhoc). Auch die Deutsche Apotheker Zeitung plant einen Beitrag. Als Patient kann man die PDF-Datei des Artikels aus dem Ärzteblatt gut verwenden, um diese dem eigenen Arzt vorzulegen und Unsicherheiten zu beseitigen, beispielsweise hinsichtlich der Frage, ob jede Ärztin und jeder Arzt in Zukunft Cannabisblüten verschreiben können wird.
Eine Antwort des Bundesministeriums für Gesundheit zur Frage von Arzneimittel-Richtgrößen und möglichen Strafzahlungen für Ärzte zeigt, dass das Ministerium davon ausgeht, dass Ärztinnen und Ärzte die Richtgrößen durchaus überschreiten dürfen, wenn dies begründet ist. Das Arzneimittel-Budget der Ärzte ist zwar begrenzt. Dennoch sollen Patienten, die teure Medikamente benötigen, diese auch erhalten dürfen. Das gilt nicht nur für teure Medikamente gegen Rheuma, die leicht 1000 € pro Woche kosten, sondern auch für Medikamente auf Cannabisbasis, wenn andere Therapieverfahren versagt haben. Einen gewissen Schutz biete die vorherige Erklärung der Krankenkasse, dass sie aufgrund der weitgehenden Therapieresistenz gegenüber anderen Therapieverfahren die Kosten der Therapie übernehmen wird. Zudem gelte der Grundsatz „Beratung vor Regress“. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass der Umgang mit der Frage möglicher Regresse in verschiedenen Regionen Deutschlands uneinheitlich gehandhabt wird.
Anfang der kommenden Woche soll die Cannabisagentur ihre Arbeit aufnehmen, der erste Schritt eines kontrollierten Cannabisanbaus für medizinische Zwecke in Deutschland. Wir gehen davon aus, dass es weit mehr als 100 Anträge auf eine Lizenz für einen kommerziellen Anbau in Deutschland geben wird.
Viel Spaß beim Lesen!
Franjo Grotenhermen
Bundesgesundheitsministerium zu Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlung, Richtgrößen für Arzneimitteln und möglichen Regressen aufgrund der Verschreibung von Cannabis und Cannabinoiden
ACM-Mitglied und Journalist Jan Elsner hat am 1. Februar das Bundesgesundheitsministerium gefragt, ob die Verschreibung von Cannabisblüten und anderen Cannabis-basierten Medikamenten das begrenzte Arzneimittelbudget der Ärzte in einer Weise belasten könnte, dass ihnen ein Regress, das heißt eine Strafzahlung wegen Überschreitung der Richtgrößen für Arzneimittel, drohen könnte.
Am 13. Februar hat er eine Antwort von der Pressestelle erhalten. Darin wird darauf hingewiesen, dass „ein Arzneimittelbudget für eine Vertragsärztin oder einen Vertragsarzt“ nicht besteht. Grundsätzlich müsse der Arzt wirtschaftlich arbeiten. Bei der Frage, ob möglicherweise nicht wirtschaftlich gearbeitet wurde und damit ein Regress drohe, biete die vor der Erstverordnung zu erteilende Genehmigung „dem Vertragsarzt bzw. der Vertragsärztin auch eine Sicherheit hinsichtlich der Kostenübernahme durch die GKV.“ Weiterhin gelte der Grundsatz "Beratung vor Regress".
Hier die vollständige Antwort.
„Sehr geehrter Herr Elsner,
Ihre Fragen beantworte ich für das Bundesministerium für Gesundheit zusammenfassend wie folgt:
Das vom Deutschen Bundestag am 19. Januar 2017 beschlossene Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften regelt unter anderem den Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form getrockneter Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon in § 31 Absatz 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Das Gesetz bedarf noch der abschließenden Beratung durch den Bundesrat. Es soll am Tag nach der Verkündung in Kraft treten.
Für die Verordnung durch Vertragsärztinnen und Vertragsärzte von Arzneimitteln auf Cannabisbasis gelten wie sonst auch die Regelungen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach §§ 106 ff. SGB V. Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz wurde die Verantwortlichkeit für die Wirtschaftlichkeitsprüfungen auf die regionale Ebene gegeben. Die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen haben einheitlich und gemeinsam mit den Kassenärztlichen Vereinigungen das Nähere zu Art und Inhalten der Wirtschaftlichkeitsprüfungen zu vereinbaren. Diese Vereinbarungen lösen grundsätzlich die bislang geltenden Richtgrößen in der Arzneimittelversorgung ab. Ein Arzneimittelbudget für eine Vertragsärztin oder einen Vertragsarzt besteht nicht. Bei den regionalen Vereinbarungen ist es auch Angelegenheit der Vertragspartner zu berücksichtigen, dass die Erstverordnung von Arzneimitteln auf Cannabisbasis durch die Krankenkasse zu genehmigen ist. Weiterhin gilt der Grundsatz "Beratung vor Regress".
Versicherte mit schwerwiegenden Erkrankungen haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon. Voraussetzung ist, dass
1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach begründeter Einschätzung des Arztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zu Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Das Gesetz legt keine Indikationen für die Versorgung mit Arzneimitteln auf Cannabisbasis fest. Die Genehmigungsanträge auf Versorgung mit diesen Arzneimitteln bei der Erstverordnung der Leistung sind nur in begründeten Ausnahmefällen von der Krankenkasse abzulehnen. Damit wird auch der Bedeutung der Therapiehoheit des Vertragsarztes bzw. der Vertragsärztin Rechnung getragen. Ein Versicherter muss nicht langjährig schwerwiegende Nebenwirkungen ertragen, bevor die Therapiealternative eines Cannabisarzneimittels genehmigt werden kann. Gleichzeitig kommt diese Therapiealternative grundsätzlich nicht als Ersttherapiemöglichkeit zur Anwendung. In solchen Fällen könnte die Krankenkasse eine Genehmigung versagen. Die vor der Erstverordnung zu erteilende Genehmigung bietet dem Vertragsarzt bzw. der Vertragsärztin auch eine Sicherheit hinsichtlich der Kostenübernahme durch die GKV.
Freundliche Grüße“
Presseschau: Medizinisches Cannabis: Die wichtigsten Änderungen (Deutsches Ärzteblatt)
In einem Übersichtsbeitrag für das Deutsche Ärzteblatt erläutern Proferssorin Kirsten Müller-Vahl und Dr. Franjo Grotenhermen die wichtigsten Änderungen des verabschiedeten Gesetzes für Ärzte
Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur „Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ am 1. März ist medizinisches Cannabis in Deutschland erstmals verschreibungsfähig. Fragen und Antworten für verordnende Ärzte.
Ärztinnen und Ärzte jeder Fachrichtung können ab 1. März Cannabisblüten und Extrakte aus Cannabis mittels Betäubungsmittel-(BtM-)Rezept verordnen. Hierfür ist keine besondere Qualifikation erforderlich. Das bisherige Verfahren entfällt damit, dass Patienten bei der Bundesopiumstelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) zum Erwerb einer standardisierten Cannabisextraktzubereitung oder von Medizinal-Cannabisblüten zur Anwendung im Rahmen einer ärztlich begleiteten Selbsttherapie beantragen müssen.
Was ändert sich im Hinblick auf die Verordnung anderer Cannabis-basierter Medikamente?
Alle anderen bisher in Deutschland bereits verschreibungsfähigen Cannabis-basierten Medikamente können auch weiterhin unverändert verordnet werden. Allerdings besteht unverändert nur für das Mundspray Nabiximols (Sativex®) eine arzneimittelrechtliche Zulassung für die Therapie der mittelschweren bis schweren Spastik bei Erwachsenen mit Multipler Sklerose (MS). Der Cannabisextrakt Nabiximols (bestehend aus einer Kombination von Tetrahydrocannabinol [THC] und Cannabidiol [CBD]), kann in anderen Indikationen aber ebenso off-label verschrieben werden wie die THC-Wirkstoffe Dronabinol und Nabilon. Vor einer Off-Label-Verordnung (per Kassenrezept) sollte stets eine Kostenübernahme bei der Krankenkasse beantragt werden. Im Gesetz heißt es dazu ausdrücklich, dass „auch in Deutschland zugelassene Fertigarzneimittel (zum Beispiel Sativex®) … unter diese Regelung“ fallen und dass Versicherte „in denselben begrenzten Ausnahmefällen … einen Anspruch auf Arzneimittel mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon erhalten“. Es ist somit zu erwarten, dass das neue Gesetz die Verschreibungsmöglichkeiten aller Cannabis-basierten Medikamente verbessert.
Welchen Patienten kann Cannabis verordnet werden?
Im Gesetz wurde ausdrücklich darauf verzichtet, einzelne Indikationen aufzuführen. Cannabisblüten und -extrakte können daher für jede Indikation verordnet werden, wenn „eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nicht zur Verfügung steht“ oder wenn diese Leistung „im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann“. Dies bedeutet, dass eine Behandlung mit Cannabis auch dann eingeleitet werden kann, wenn theoretisch noch weitere, bisher nicht eingesetzte (zugelassene) Behandlungen zur Verfügung stehen und der Patient noch nicht „austherapiert“ ist.
Bei welchen Indikationen ist Cannabis wirksam?
Bereits aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber darauf verzichtet hat, im Gesetz einzelne Indikationen aufzuführen, wird deutlich, dass bis heute unbekannt ist, bei welchen Erkrankungen oder Symptomen Cannabis indiziert ist. Aktuell besteht für Cannabis für keine einzige Indikation eine Zulassung. In den Jahren 2007 bis 2016 erhielten allerdings Patienten mit mehr als 50 verschiedenen Erkrankungen/Symptomen eine Ausnahmeerlaubnis vom BfArM für eine ärztlich begleitete Selbsttherapie mit Medizinal-Cannabis. Es wird daher allgemein angenommen, dass Cannabis ein sehr breites therapeutisches Spektrum hat.
Als etablierte Indikationen für Cannabis-basierte Medikamente gelten chronische – insbesondere neuropathische – Schmerzen, Spastik bei MS, Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen. Hinweise für positive Wirkungen reichen von neurologischen (Spastik und Schmerzen unterschiedlicher Ursachen, hyperkinetische Bewegungsstörungen), über dermatologische (Neurodermitis, Psoriasis, Akne inversa, Hyperhidrosis), ophthalmologische (Glaukom) und internistische (Arthritis, Colitis ulzerosa, Morbus Crohn) bis hin zu psychiatrischen Erkrankungen/Symptomen (Depressionen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörung, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung [ADHS], Schlafstörungen).
Wann übernimmt die gesetzliche Krankenkasse die Kosten der Behandlung?
Vor Behandlungsbeginn muss eine Genehmigung der Krankenkasse erteilt werden, sofern die Behandlung zu ihren Lasten erfolgen soll. Allerdings heißt es im Gesetz, dass dieser Antrag „nur in begründeten Ausnahmefällen“ von der Krankenkasse abgelehnt werden darf. Über die Anträge soll – auch bei Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen – innerhalb von 3–5 Wochen entschieden werden. Erfolgt die Verordnung im Rahmen einer spezialisierten ambulanten Palliativversorgung nach § 37 b, verkürzt sich die Genehmigungsfrist auf drei Tage. Eine Verordnung mittels Privatrezept kann jederzeit und für jede Indikation unabhängig von einer Genehmigung durch die Krankenkasse erfolgen.
Wie genau wird Cannabis verschrieben?
Die Verschreibungshöchstmenge für Cannabis beträgt 100 000 mg (100 g) in 30 Tagen. Zwecks einfacherer Handhabbarkeit wurde die Höchstmenge unabhängig vom Gehalt einzelner Cannabinoide in der jeweiligen Cannabissorte festgelegt. Derzeit können Cannabisblüten mit einem Gehalt an THC – dem am stärksten psychotrop wirksamen – Cannabinoid von circa ein bis circa 22 % verordnet werden. Bei einer Verschreibung von 100 g Cannabis kann die verordnete Menge an THC daher zwischen 100 und 22 000 mg schwanken. Auf dem Rezept muss neben der Menge auch die Cannabissorte angegeben werden. Es können auch verschiedene Sorten mit unterschiedlichen THC-Gehalten gleichzeitig auf einem Rezept verschrieben werden. Wie auch sonst bei der Verschreibung BtM-pflichtiger Substanzen kann im begründeten Einzelfall durch Kennzeichnung mit dem Buchstaben „A“ von der festgesetzten Höchstmenge abgewichen werden. Da Cannabisblüten üblicherweise in Dosen à 5 oder 10 g abgegeben werden, empfiehlt sich eine Verschreibung in diesen Schritten. Eine Verordnung könnte beispielsweise so lauten: „Cannabisblüten Sorte Bedrocan, 15 g, Dosierung gemäß schriftlicher Anweisung“.
Welche Cannabissorten können verordnet werden?
Aktuell können ausschließlich aus dem Ausland (Niederlande, Kanada) importierte Cannabissorten verordnet werden. Alle 13 derzeit verfügbaren Sorten sind auf den Gehalt der Cannabinoide THC und CBD standardisiert, enthalten darüber hinaus aber in geringer Konzentration eine große Zahl weiterer (nicht ausgewiesener) Cannabiswirkstoffe und Terpene, die die Gesamtwirkung beeinflussen können (Tabelle 1). Um langfristig eine ausreichende Versorgung mit Cannabisarzneimitteln in standardisierter Qualität sicherzustellen, wurde dem BfArM die Aufgabe übertragen, eine Cannabisagentur einzurichten, sodass demnächst ein staatlich überwachter Cannabisanbau in Deutschland erlaubt sein wird. Mit der Verfügbarkeit von Cannabisblüten aus Deutschland wird allerdings erst in 2–3 Jahren gerechnet.
Bei welcher Indikation ist welche Cannabissorte am wirksamsten?
Diese Frage kann zurzeit nicht beantwortet werden. Die Mehrzahl der Patienten bevorzugt Cannabissorten mit höherem THC-Gehalt (> 10 %). In einzelnen Indikationen (etwa seltene kindliche Epilepsien) erwies sich aber auch reines CBD (ohne THC) als wirksam.
Wie werden Cannabisblüten dosiert?
Alle Cannabis-basierten Medikamente und so auch Cannabisblüten und -extrakte sollten einschleichend dosiert werden. Je nach THC-Gehalt sollte die Anfangsdosis bei 25–50 mg Cannabisblüten (bei Sorten mit einem höheren THC-Gehalt > 10 %) und maximal 100 mg Cannabisblüten bei geringem THC-Gehalt pro Tag betragen. Je nach Wirksamkeit und Verträglichkeit sollte die Dosis um circa 2,5–5 mg THC (entsprechend je nach Sorte circa 25–100 mg Cannabis) alle 1–3 Tage gesteigert werden. Tagesdosen von THC-reichen Cannabissorten liegen bisherigen Erfahrungen zufolge oft zwischen 0,2 und 3 g, mit Schwankungen von 0,05–10 g. Die im Gesetz festgelegte Verschreibungshöchstmenge von 100 g Cannabis pro 30 Tage orientierte sich an den in den letzten Jahren gesammelten Erfahrungen des BfArM im Rahmen der Erlaubniserteilungen für eine Selbsttherapie mit Medizinal-Cannabis. Nach heutigem Kenntnisstand schwanken die erforderlichen Dosierungen Cannabis-basierter Medikamente interindividuell sehr stark und können – zumindest gegenwärtig – nicht mit hinreichender Genauigkeit für einzelne Indikationen angegeben werden. Wie häufig die Einnahme pro Tag erfolgen soll, richtet sich nach der Einnahmeart, Indikation und Wirkdauer und muss individuell in Absprache zwischen Arzt und Patient ermittelt werden.
Welche Einnahmearten sind möglich?
Grundsätzlich kann Cannabis inhaliert oder oral aufgenommen werden. Eine Inhalation ist durch Rauchen und Verdampfen (mittels Vaporisator) möglich. Der große Vorteil des Verdampfens liegt darin, dass keine potenziell schädigenden verbrannten Pflanzenmaterialien (wie beim Rauchen) eingeatmet werden. Die Pharmakokinetik von THC und anderen Cannabinoiden ist bei inhalativer Aufnahme sehr verschieden von der bei oraler Aufnahme hinsichtlich Wirkeintritt, -stärke und -dauer (Tabelle 2). Welche Einnahmeart günstiger ist, hängt vom Wunsch des Patienten, der Indikation und gegebenenfalls Begleiterkrankungen ab. In Einzelfällen kann auch eine kombinierte orale und inhalative Einnahme sinnvoll sein.
Welche Nebenwirkungen können eintreten?
Akute Nebenwirkungen betreffen vor allem die Psyche und Psychomotorik (Euphorie, Angst, Müdigkeit, reduzierte psychomotorische Leistungsfähigkeit) sowie Herz und Kreislauf (Tachykardie, Blutdruckabfall, Schwindel, Synkope). Bei regelmäßiger Einnahme tritt meist eine Gewöhnung ein, sodass Cannabis-basierte Medikamente allgemein als gut verträglich gelten.
Welche Kontraindikationen bestehen?
Cannabis sollte bei Bestehen einer schweren Persönlichkeitsstörung, Psychose und schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Schwangeren und stillenden Müttern nicht verordnet werden. Wegen fehlender Daten sollte die Behandlung von Kindern und Jugendlichen (vor der Pubertät) sehr sorgfältig abgewogen werden. Besonders bei älteren Patienten können stärkere zentralnervöse und kardiovaskuläre Nebenwirkungen auftreten.
Kann eine Abhängigkeit eintreten?
Bisher wurde kein Fall einer Cannabisabhängigkeit infolge einer ärztlich überwachten Therapie publiziert, wenn eine Behandlung mit Cannabis oder einem Cannabis-basierten Medikament aus medizinischer Indikation erfolgte und keine der oben genannten Kontraindikationen bestand. Besonders bei abrupter Beendigung einer Therapie können gering bis mäßig ausgeprägte Entzugssymptome auftreten.
Was müssen Vertragsärzte noch beachten?
Laut Gesetz muss der verordnende Arzt an einer nicht interventionellen, ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken dienenden Begleiterhebung teilnehmen. Ist der Arzt dazu nicht bereit, ist eine Kostenerstattung durch die Krankenkasse ausgeschlossen. Der Patient muss vor Erstverordnung durch den Arzt über die Datenerfassung informiert werden. Die Begleiterhebung ist für einen Zeitraum von 5 Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes geplant. Der Arzt muss für jeden einzelnen Patienten, der mit Cannabis behandelt wird, anonymisiert Daten zu Alter, Geschlecht, Diagnose, früheren und aktuellen Behandlungen sowie den Verordnungsgrund für die Behandlung mit Cannabis inklusive Dosis, Wirksamkeit, Verträglichkeit und Lebensqualität an das BfArM übermitteln.
Presseschau: Faktencheck: Cannabis auf Rezept (Apotheke-Adhoc)
Das Online-Portal Apotheke-Adhoc unterrichtet ausführlich Apotheker über die Neuerungen.
Faktencheck: Cannabis auf Rezept
Nur noch wenige Tage, dann könnten schwerkranke Patienten mit einem Kassenrezept über Cannabis am HV-Tisch stehen. Mitte Februar hat der Bundesrat der Freigabe zugestimmt, sobald das Gesetz offiziell verkündet ist, dürfen Ärzte bei medizinischer Notwendigkeit Blüten oder Extrakt verordnen. Was ist zu tun, wenn eine entsprechende Verordnung in der Apotheke vorgelegt wird? Die wichtigsten Fakten im Schnellcheck.
Wie ist der Status quo?
Bislang waren nur Fertigarzneimittel auf Basis von Cannabis als verkehrs- und verschreibungsfähige Betäubungsmittel eingestuft (Anlage III Betäubungsmittelgesetz, BtMG). Zubereitungen aus Cannabis waren verkehrs-, aber nicht verschreibungsfähig (Anlage II). Patienten brauchten eine Ausnahmeerlaubnis, um Cannabis zur medizinischen Selbsttherapie in einer Apotheke zu kaufen. Die Kassen übernahmen die Kosten dann nicht.
Was ändert sich jetzt?
Mit der Novellierung werden Cannabis-Zubereitungen den zugelassenen Präparaten gleichgestellt. Damit können sie zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden. Außerdem wird in der Betäubungsmittverschreibungsverordnung (BtMVV) klargestellt, dass Cannabis nicht nur als Zubereitung, sondern auch in Form von getrockneten Blüten verschrieben werden darf.
Welchen Patienten kann Cannabis verordnet werden?
Laut Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis, wenn „eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht“ oder diese nach Einschätzung des behandelnden Arztes „unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann“. Zweite Vorbedingung ist, dass „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht“.
Wie sehen die entsprechenden Rezepte aus?
Als Betäubungsmittel darf Cannabis nur auf BtM-Rezept verschrieben werden. Zulässig ist die Verordnung von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und von Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon.
Wie viel Cannabis darf verordnet werden?
Laut novellierter BtMVV darf der Arzt innerhalb von 30 Tagen pro Patient bis zu 100 g Cannabis in Form von getrockneten Blüten verschreiben. Bei Cannabisextrakt gilt bezogen auf den Gehalt an ∆9-Tetrahydrocannabinol die bisherige Höchstgrenze von 1000 mg.
Ist der Einsatz von Cannabis genehmigungspflichtig?
Eine Ausnahmegenehmigung nach Paragraf 3 Absatz 2 BtMG ist nicht mehr erforderlich. Allerdings ist bei erstmaliger Verordnung vorab ein Antrag auf Kostenübernahme zu stellen. Die Kassen dürfen die Genehmigung nur in begründeten Ausnahmefällen ablehnen. Die Kassen müssen wie sonst auch innerhalb von drei Wochen entscheiden, bei Palliativpatienten sogar innerhalb von drei Tagen nach Antragseingang.
Muss jede Apotheke Rezepte Cannabis abgeben?
Laut GKV-Spitzenverband wird Cannabis in jeder Apotheke erhältlich sein. Aufgrund der ärztlichen Verschreibung unterliegen Apotheken dem Kontrahierungszwang nach Paragraf 17 Absatz 4 Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO).
Kann jeder Arzt Cannabis verordnen?
Weder Tier- noch Zahnärzte dürfen Rezepte über Cannabis ausstellen. Für „normale“ Ärzte gelten laut GKV-Spitzenverband keine besonderen Anforderungen, insofern gelten für die Verordnung von Cannabis die allgemeinen Regelungen der vertragsärztlichen Versorgung.
Welche Optionen gibt es?
Angeboten werden neben den Fertigarzneimitteln Sativex (Cannabis-Dickextrakt, GW/Almirall) und Canemes (Nabilon, AOP Orphan) verschiedene Ausgangsstoffe zur Verarbeitung in der Apotheke. Das können Cannabis-Blüten sein, die von Spezialgroßhändlern angeboten werden und geraucht oder inhaliert werden. Alternativ gibt es von Bionorica einen Extrakt sowie die Reinsubstanz Dronabinol, die im Rahmen der Rezeptur weiterverarbeitet werden. Über die Zulassung für das Fertigarzneimittel Kachexol streitet der Hersteller aus Neumarkt mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).
Was sind die Vor- und Nachteile der Blüten?
Cannabis-Blüten werden seit zehn Jahren mit Ausnahmegenehmigung eingesetzt, hat also eine gewisse Tradition. In der Szene wird teilweise die Ansicht vertreten, dass Rauchen besser hilft. Tatsächlich wirkt gerauchtes Cannabis schneller und kürzer als die vergleichbaren oral anzuwendenden Produkte. Die Bioverfügbarkeit ist allerdings unklar, da selbst bei kontrollierter Qualität der Drogen je nach Inhalationstiefe unterschiedliche Mengen in der Lunge ankommen. Für Inhalatoren liegen gar keine Erfahrungen vor. Entsprechend haben sich Ärzte und Apotheker gegen den Einsatz der Blüten ausgesprochen. Dazu kommt, dass sie vergleichsweise teuer sind.
Was sind die Vor- und Nachteile der Fertigarzneimittel?
Sativex ist seit mehreren Jahren auf dem Markt. Die Wirksamkeit gegen Spasmen bei Multipler Sklerose wurde in Studien belegt, der Einsatz in anderen Indikationen wird erforscht. Außerdem ist das Präparat im Vergleich zu den anderen Therapieoptionen preiswert. Allerdings sehen Kritiker Compliance-Probleme: Das Einsprühen der alkoholischen Lösung in den Mundraum können zu Läsionen und damit zu Akzeptanzproblemen führen. Trotz der Technologie sei die Galenik ein Flop. Dazu kommt: Der Einsatz von Sativex ist auf die Indikation MS beschränkt. Canemes kann gegen Emesis und Nausea als Begleiterscheinungen einer Chemotherapie eingesetzt werden.
Was sind die Vor- und Nachteile von Dronabinol und Cannabis-Extrakten?
Der Extrakt wird seit 2008 hergestellt, die Reinsubstanz sogar schon seit 2002. Dronabinol hat im Markt eine deutlich größere Präsenz erlangt und wurde mittlerweile bei tausenden Patienten eingesetzt. Vor allem in Österreich, wo die Kosten bereits übernommen wurden, gibt es Erfahrungen in der Breite. Nachteil sind die hohen Kosten, die der Rezepturzuschlag mit sich bringt.
Wo ist Cannabis zu beziehen?
Cannabis-Blüten werden derzeit etwa von Fagron aus den Niederlanden importiert. Zudem haben sich Pedanios und MedCann auf dieses Feld spezialisiert. Künftig soll der Anbau der Kontrolle des BfArM unterliegen. Heißt: Die Behörde vergibt im Rahmen von Ausschreibungen die Aufträge und kauft die gesamten Bestände auf, um sie dann an Apotheken weiter zu vertreiben. In Bonn werden damit auch die Preise festgelegt. Da das Vergabeverfahren noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, wird vorerst weiter auf Importe zurückgegriffen werden müssen. Bionorica liefert seine Produkte direkt und über den Großhandel, auch die Fertigarzneimittel sind ganz normal zu bestellen.
Wie werden die Ausgangsstoffe in der Apotheke verarbeitet?
Blüten werden abgefüllt, der Extrakt wird zu öligen Tropfen verarbeitet. Alternativ gibt es die Möglichkeit, mit Lecithol als Emulgator eine wässrige Lösung herzustellen. Dronabinol wird ebenfalls zu öligen Tropfen oder zu Kapseln verarbeitet. Für Cannabidiol-Lösungen sowie die Dronabinol-Zubereitungen existieren NRF-Vorschriften. Bionorica liefert ein komplettes Set, der Wirkstoff ist in einer Spritze mit 250, 500 oder 1000 mg zuzüglich 10 bis 40 mg Überfüllung enthalten. Als blass-gelbes bis farbloses Harz muss Dronabinol mittels Heißluftpistole oder Fön auf circa 70 Grad aufgewärmt werden. In tropffähiger Form wird der Wirkstoff entweder in Miglyol 812 (Öl) oder Softisan (Kapseln) aufgelöst und entsprechend weiterverarbeitet. Die Haltbarkeit beträgt dann sechs Monate.
Welche Identitätsprüfungen gibt es für Cannabis?
Bionorica liefert mit dem jeweiligen Set einen entsprechenden Schnelltest. Cannabis-Blüten werden entsrechend DAC-Monographie geprüft. Diese wurde im März 2016 von der zuständigen Kommission beschlossen und im Sommer 2016 aufgenommen. Im Oktober wurde außerdem eine Monographie zu Cannabisblüten für das Deutsche Arzneibuch (DAB) verabschiedet. Im Unterschied zur DAC-Monographie wurde hier eine optimierte und zeitlich verkürzte Gehaltsbestimmungsmethode aufgenommen. Infolge zahlreicher Kommentare wurde im Nachgang zur offiziellen Anhörung die Lagerungstemperatur im schriftlichen Umlaufverfahren von der DAB-Kommission von 2 bis 8 Grad auf unterhalb 25 Grad geändert. Derzeit befindet sich die Monographie in der EU-Notifizierung.
Welche Dokumentationspflichten gibt es?
Im Rahmen des BtM-Verkehrs gelten die entsprechenden Vorschriften.
Wo kann man sich informieren?
Die Hersteller halten umfassende Informationsmaterialien bereit. Außerdem gibt es derzeit Fortbildungsveranstaltungen der Apothekerkammern. Das BfArM will Anfang März in Berlin über die Details zum Anbau und Verkehr bekannt geben und dann auch FAQ für Ärzte und Apotheker veröffentlichen.
Wie ist die Studienlage?
In einer Reihe von kontrollierten Studien wurde die klinische Wirksamkeit von Cannabis bei verschiedenen Indikationen untersucht. Bei der Indikation „chronischer Schmerz“ gibt es rund 30 Studien mit fast 2500 Patienten. Ein Drittel der Probanden berichtete dabei eine Reduktion der Schmerzen. Am effektivsten war dabei die inhalative Aufnahme von THC.
MS und Paraplegie sind weitere Indikationen, bei denen der Effekt von Cannabis bereits untersucht wurde: In 14 Studien mit mehr 2200 Patienten konnte gezeigt werden, dass sich Cannabinoide positiv auf die Spasmensymptomatik auswirken.
Zu der Indikation „Chemotherapie-induzierte Übelkeit und Erbrechen“ findet man ebenfalls rund 30 kontrollierte Studien mit mehr als 1700 Patienten. Alle Studien konnten den größeren Nutzen der Cannabinoide im Vergleich zu Placebo oder anderen Therapieoptionen zeigen.
Eine weitere Indikation ist die Appetitsteigerung bei HIV/AIDS: Die appetitsteigernde Wirkung von THC wurde an mehr als 250 Patienten gezeigt. Patienten, die mit Dronabinol therapiert wurden, nahmen stärker an Gewicht zu als unter Placebo.
Wie viele Patienten kommen für eine Therapie in Frage?
Eine Abschätzung trauen sich die Experten derzeit nicht zu. Bei Bionorica hat man sich darauf eingestellt, dass das Drei- bis Vierfache des bisherigen Bedarfs abgerufen werden könnte. Lieferengpässe werde es nicht geben, verspricht Firmenchef Professor Dr. Michael Popp.
Wie ist die Resonanz der Ärzte?
Bionorica hat zehn Außendienstler zu Ärzten geschickt. Die Resonanz sei positiv, sagt Popp. Denn die Mediziner hätten nun für austherapierte und oft gut informierte Patienten eine neue Option an der Hand. Da die Indikation bewusst offen gehalten wurde, könnten Rezepte von Onkologen sowie aus Schmerz- und MS-Zentren kommen. Auch bei kleineren Indikationen wie Tourette-Syndrom könnten Ärzte Cannabis verordnen.
Welche Rolle spielt medizinischer Cannabis bislang?
In Deutschland verfügten zuletzt 1004 Patienten über eine Ausnahmeerlaubnis, Cannabis zur medizinischen Selbsttherapie in einer Apotheke zu kaufen. Alleine 2016 wurden 452 Genehmigungen erteilt. Dass nicht mehr Patienten entsprechende Anträge gestellt haben, hängt mit den hohen Kosten zusammen. Die Gerichte sahen bislang keinen Rechtsanspruch auf Erstattung. Zwei Patienten war es erlaubt, Cannabis zu medizinischen Zwecken anbauen. Inklusive Dronabinol wurden rund 5000 mit Cannabis behandelt.
Wie werden Patienten umgestellt?
Vorerst kann weiter auf Basis der Ausnahmegenehmigungen versorgt werden. Allerdings sollen die Patienten innerhalb von drei Monaten auf die reguläre Versorgung umgestellt werden. Die Genehmigung sollte dann zurückgegeben werden.
Führerscheinverlust bei einem Erlaubnisinhaber bei gleichzeitiger Verwendung von legalen Cannabisblüten aus der Apotheke und illegalen Cannabisprodukten
Der Verwaltungsgerichtshof von Baden-Württemberg hat geurteilt: „Ein täglicher Konsum von Cannabis, das zu einem beträchtlichen Teil illegal beschafft wird, schließt grundsätzlich nach Nummer 9.2.1 der Anlage 4 der FeV die Fahreignung aus, auch wenn der Betroffene aufgrund einer Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG im Rahmen einer ärztlich begleiteten Selbsttherapie Medizinal-Cannabis aus der Apotheke erwerben darf (Bestätigung VG Karlsruhe, Urteil vom 30.06.2016 - 3 K 3375/15 - juris).“
VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 31.1.2017, 10 S 1503/16
Presseschau: Cannabis-Medizin: "Die Pharmaindustrie lauert und wartet" (Wiener Zeitung)
Die Wiener Zeitung sprach mit Dr. Kurt Blaas, der in Österreich die mit Abstand größte Erfahrung bein Einsatz von Cannabis-basierten Medikamenten bei seinen Patienten hat. Blaas fordert auch für Österreich die Verschreibungsfähigkeit von Cannabisblüten, wie dies in Kürze in Deutschland möglich sein wird.
Cannabis-Medizin: "Die Pharmaindustrie lauert und wartet"
Gegen Schmerzen, Nervenerkrankungen, Migräne, gegen schwere Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Epilepsie, aber auch gegen Depressionen, Angstzustände und Schlafstörungen ist ein Kraut gewachsen: Cannabis, bis vor kurzem noch mehrheitlich als gefährliche Einstiegsdroge verteufelt, erlebt als Medikament eine enorme Renaissance. Deutsche Patienten, die in immer größerer Zahl nach Cannabis verlangen, können sich nun über einen Erfolg freuen.
Mit einer entsprechenden Genehmigung konnten sie sich zwar auch bisher schon Hanfblüten in der Apotheke besorgen, die Kosten mussten sie aber selbst tragen. Nach einer Gesetzesänderung sind nun die deutschen Kassen verpflichtet, bei ärztlicher Verschreibung die Kosten für das natürliche Cannabis zu übernehmen. Gleichzeitig müssen betroffene Patienten Daten zu ihrem Therapieverlauf an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte weitergeben, wo diese in einer Studie ausgewertet werden. Der Eigenanbau bleibt aber auch in Deutschland strafbar, die Apotheken beziehen natürliche Cannabisblüten künftig von staatlich kontrollierten, aber privaten Züchtern. Der Allgemeinmediziner und Cannabis-Arzt Kurt Blaas hat mit der "Wiener Zeitung" über die Vorteile von natürlichem Cannabis, über Patientenwünsche, Krankheitsbilder und die Forschung gesprochen.
Beim Informationsstand zu Cannabis als Medikament gebe es ein Ost-West-Gefälle, sagt Kurt Blaas. Die Hälfte seiner Patienten kommt aus den westlichen Bundesländern.
"Wiener Zeitung": Nach der Gesetzesnovelle in Deutschland hat das österreichische Gesundheitsministerium angekündigt, bis zum Frühjahr ein Expertengremium einzurichten. Die Besetzung des Gremiums ist noch nicht einmal fix, da meldet sich schon der Schmerzmediziner Hans-Georg Kress und sagt, es mache keinen Sinn, Cannabis einfach für medizinische Zwecke freizugeben. Schmerzlindernde Effekte seien nur bei pharmazeutisch hergestellten Cannabinoid-Medikamenten nachgewiesen. Sehen Sie das anders?
Kurt Blaas: Das sagt ein Wissenschafter, der mit Mono-Produkten viel besser arbeiten kann als mit einem Extrakt oder einer Lösung oder einem Mehrfachpräparat, weil er damit schneller Studien machen kann. Und weil er ein Technokrat ist, der gewohnt ist, mit industriell hergestellten Produkten zu arbeiten.
Herr Dr. Kress ist sicher ein hervorragender Schmerzmediziner und Anästhesist, aber die Schmerzmedizin ist nur ein Aufhänger in der Cannabis-Debatte. Nur rund ein Drittel meiner Patienten sind Schmerzpatienten, der Rest hat andere Krankheiten: Psychische Probleme, Schlaflosigkeit, neurologische Probleme, auch Tumor-Patienten sind dabei. Es geht nicht nur um Schmerzen, sondern auch um andere, beispielsweise psychische oder nervöse, Erkrankungen. Darüber wird aber nicht geredet. In einem Expertengremium müssen nicht nur Schmerzmediziner, sondern auch Pharmakologen, Forscher, Public Healthcare-Experten und eben auch Allgemeinärzte vertreten sind. Wir wissen, wie die Realität der Patienten aussieht.
Was wollen Ihre Patienten?
Seit zwei Monaten beobachten wir eine neue Entwicklung. Die Patienten kommen nicht mehr nur mit dem Wunsch nach einem Cannabis-Medikament, sondern bringen gleich fertige Präparate oder auch Pflanzen mit: "Ich habe das über einen Freund aus Kroatien bezogen" oder "ich kenne einen Professor in Slowenien, der stellt das her", das höre ich häufig. Die Patienten wollen dann nur mehr wissen, wie viel sie davon nehmen sollen oder wie viel THC (Hauptinhaltsstoff, berauschend, Anm.) enthalten sein soll, damit es auf die Diagnose passt. Dann besorgen sie sich die Präparate im Ausland.
Häufig kommen Leute und wollen, dass ich Blüten verschreibe, was ich nicht kann. Etwa ein Drittel der Leute will das Cannabis selbst anbauen, ist aber enttäuscht, dass es in Cannabis-Shops nur Setzlinge zu kaufen gibt, weil THC-haltige Blüten nach wie vor illegal sind. Die Leute informieren sich über das Internet, wobei dies oft zu einer Überforderung fühlt. Deshalb, und auch wegen des großen Andrangs, halten wir jetzt einmal pro Monat vorab Info-Veranstaltungen ab, zu denen bis zu 70 Leute kommen, um sich zu informieren.
Wieso gibt es zwar seit einiger Zeit synthetische oder auch natürliche Extrakte wie Dronabinol (THC in Reinform, Anm.) oder Cannabidiol (CBD, entzündungshemmender, nicht-berauschender Stoff, Anm.), bei den Blüten aber so großen Widerstand?
Das hängt sicher auch mit der Pharma-Lobby zusammen. Eine Pflanze kann man eben nicht patentieren lassen. Mit Reinstoffen lässt es sich besser testen und produzieren. Deshalb ist die deutsche Entscheidung zu begrüßen: Es wird ja eine Begleitstudie geben, so kann die Wirksamkeit der natürlichen Pflanze besser erforscht werden. Genau das passiert auch in Israel, wo Patienten mehrheitlich natürliche Produkte bekommen. Das deckt sich auch mit meinen Erfahrungen: Vielen Leuten helfen die Präparate, aber andere wollen die Blüten, haben sie bereits probiert und sind überzeugt, dass die ihnen besser helfen. Nur auf synthetische Produkte zu fokussieren, geht an der Realität der Patienten vorbei. Dennoch lauert die Pharmaindustrie und wartet, bis Cannabis in der Medizin fester verankert ist. Einzelne Konzerne haben bereits neue Produkte in der Schublade. Dronabinol gibt es ja noch nicht als Fertigprodukt, da ist etwa die deutsche Firma Bionorica dran.
Würde eine medizinische Liberalisierung bei Blüten nicht auch Missbrauch ermöglichen?
Das denke ich nicht. Patienten müssen, auch bei mir, ohnehin eine fundierte Diagnose eines Facharztes vorlegen. Gleichzeitig zu diagnostizieren und zu verschrieben, das finde ich problematisch. Und eine Situation wie in den USA, wo man sich bei Ärzten quasi ein Attest holt und sich dann Cannabis für den Freizeitgebrauch kauft, darf es bei uns nicht geben.
Mit welchen Krankheitsbildern kommen die Patienten zu Ihnen?
Natürlich kommen schwer Kranke mit Multipler Sklerose, Kinder mit Epilepsie, oder auch Krebs- oder HIV-Patienten. Eine wachsende Gruppe sind aber Patienten zwischen 30 und 50, die voll im Arbeitsleben stehen. Sie kommen mit Beschwerden wie Schlaflosigkeit, Depressionen, Angstzuständen oder haben ein Burnout hinter sich. Viele von ihnen wollen natürliches Cannabis, haben aber Angst vor Kriminalisierung. Es ist kein Wunder, dass Cannabis Konjunktur hat. Es passt in unsere Zeit. Stressbedingte Erkrankungen nehmen eben zu, und Cannabis hilft vielen.
Wäre ein Kriterienkatalog bei natürlichem Cannabis sinnvoll, wenn der Zugang liberalisiert wird?
Bei Präparaten bin ich dagegen, bei medizinischem Cannabis dafür. Vor allem aber braucht es Zeit für die Diagnose. Auf Neuroleptika oder Antidepressiva zu setzen ist einfach, sie werden auch rasch verschrieben. Bei Cannabis reicht eine Stunde Gespräch eben nicht aus, um die Verträglichkeit bei seelischen Störungen abschätzen zu können.
Wie wird Cannabis-Medizin von den Krankenkassen wahrgenommen?
Für die Kassen muss ich größtenteils eine Lanze brechen, auch wenn es beim Informationsstand, wie auch bei den Ärzten, ein großes Ost-West-Gefälle gibt. Das Verständnis für die Patienten wächst, bei Schwerkranken wird meist gezahlt. Bei weniger schwer Kranken gibt es aber oft kein Geld.