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ACM-Mitteilungen vom 23. Oktober 2016

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Liebe Leserin, lieber Leser,

am 18. November findet am Immanuel Krankenhaus der Charité Berlin ein Workshop für Ärzte: Cannabis und Cannabinoide in der Medizin statt, eine gute Möglichkeit sich einen Gesamtüberblick über das Thema zu verschaffen.

Am 21. Oktober war ich auf einem Kongress in Straßburg (Frankreich). Die einzige Möglichkeit der legalen medizinischen Verwendung von Cannabisprodukten ist in Frankreich eine Ausnahmegenehmigung zur Verwendung der Dronabinol-Kapseln Marinol, die vom Patienten selbst bezahlt werden müssen. Nach Angaben des Vorsitzenden unserer Partnerorganisation in Frankreich UFCM ( l’Union Francophone pour les

Cannabinoïdes en Médecine), Bertrand Rambaud, gibt es zurzeit etwa 200 solcher Ausnahmegenehmigungen. Eine relevante Besserung der Situation für französische Patienten ist leider nicht in Sicht. Die Verfügbarkeit von Sativex in den Apotheken verzögert sich.

Ein Team des Fernsehsenders Arte plant, in einem Beitrag diese unterschiedlichen Entwicklungen herauszuarbeiten. Wir sind gespannt.

Viel Spaß beim Lesen!

Franjo Grotenhermen

Cannabidiol ist nun verschreibungspflichtig

Am 1. Oktober trat die Fünfzehnte Verordnung zur Änderung der Arzneimittelverschreibungsverordnung(AMVV) in Kraft. Der Bundesrat hatte dem Verordnungsentwurf am 23. September zugestimmt; die Verordnung wurde am 30. September im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Die Änderungen wurden am 1. Oktober 2016 wirksam.

Wie die ABDA auf ihrer Webseite mitteilte, wird damit auch Cannabidiol (CBD) verschreibungspflichtig. Das bedeutet, dass CBD zukünftig vom Arzt verschrieben werden muss und in der Apotheke nicht mehr frei verkäuflich ist.

Am 26. Mai 2016 hatte Dr. Harald Terpe (Bündnis 90/Die Grünen) eine schriftliche Frage (Nr. 5/210) zum Thema Verschreibungspflicht von Cannabidiol gestellt. Wir berichteten in den ACM-Mitteilungen vom 4. Juni 2016.

Auf seiner 75. Sitzung des Sachverständigen-Ausschusses für Verschreibungspflicht nach § 53 Absatz 2 AMG vom 19. Januar 2016 hat sich der Ausschuss für eine Verschreibungspflicht von Cannabidiol ausgesprochen. Siehe ACM-Mitteilungen vom 9. April 2016.

In einem Urteil vom 15. Januar 2009 (C-140/07) hat der Europäische Gerichtshof geurteilt, „dass ein Produkt – abgesehen von den Stoffen oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, zur Erstellung einer medizinischen Diagnose angewandt zu werden – nicht als Arzneimittel im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden kann, wenn es aufgrund seiner Zusammensetzung – einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe – und bei bestimmungsgemäßer Anwendung die physiologischen Funktionen nicht in nennenswerter Weise durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen kann.“

Ob daher eine Substanz ein Arzneimittel ist, hängt daher wesentlich auch von der Dosierung ab. Daher ist es fraglich, ob die heute als Nutzhanfextrakte angebotenen Präparate, die CBD enthalten und nicht für medizinische Zwecke bestimmt sind, als Arzneimittel betrachtet werden müssen oder Nahrungsergänzungsmittel wie Extrakte von Baldrian und anderen Pflanzen darstellen.

Presseschau: Ärzte verschreiben Cannabis: “Es ist ein Schritt zur Normalisierung” (Esanum)

Esanum, ein Internetportal für Ärztinnen und Ärzte und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen, führte ein Interview mit Dr. Franjo Grothenhermen über die Verwendung von Cannabis in der Medizin und die anstehende Gesetzesänderung.

Ärzte verschreiben Cannabis: „Es ist ein Schritt zur Normalisierung“.

Interview mit Dr. med. Franjo Grotenhermen über Chancen, Risiken und gesundheitspolitische Aspekte vom medizinischen Einsatz von Cannabis.

Derzeit können Cannabisblüten nur mit einer Ausnahmeerlaubnis der Bundesopiumstelle bezogen werden. Ab 2017 soll der Arzt über die Verschreibung entscheiden können, Dr. med. Franjo Grotenhermen betrachtet diesen Schritt als zwingend notwendig: “Es ist wichtig, dass die Prozedur der Ausnahmeerlaubnis bei der Bundesopiumstelle entfällt.” Vor allem begründet er dies damit, dass Ärzte aufgrund der bürokratischen Hindernisse diese Therapiemaßnahme gemieden haben. “Das Verfahren erschien ihnen zu kompliziert und in einer Praxis mit großem Patientendurchlauf schwer durchführbar.” Zudem positioniert sich Dr. Grotenhermen für die Entscheidungsgewalt der Ärzte, wenn es um die Kostenübernahme geht, mit der Tendenz, dass Krankenkassen dafür aufkommen sollten. Medizinisches Cannabis besteche durch seine Vielseitigkeit: “Es gibt keine zweite pharmakologisch wirksame und therapeutisch nutzbare Substanz wie THC (Delta-9-Tetrahydrocannabinol, Dronabinol), die auch nur annähernd ein so breites Wirkungsspektrum aufweist.” Für weit mehr als 50 verschiedene Erkrankungen, die zum Teil sehr schwerwiegend sind, könne Cannabis therapeutisch genutzt werden. Darunter neurologische und chronisch-entzündliche Erkrankungen, für letztere steht vor allem die Schmerzlinderung im Vordergrund. Jedoch auch, um Nebenwirkungen abzumildern, zum Beispiel im Rahmen einer Krebstherapie.

esanum: Herr Grotenhermen, häufig ist vom medizinischen Einsatz von Cannabis die Rede. Nehmen Sie doch bitte eine Abgrenzung zwischen Cannabisblüten und Cannabis-basierten Medikamenten vor.

Dr. Grotenhermen: Hinsichtlich der Wirkungen gibt es keine klaren Abgrenzungen, zumal der Cannabisextrakt Sativex eine Mischung aus zwei alkoholischen Auszügen zweier Cannabisblüten ist, eine CBD-reiche und eine THC-weiche Sorte, die so gemischt werden, dass die gewünschten konstanten Konzentrationsverhältnisse von THC und CBD entstehen. Es ist aber für viele Ärzte zunächst ungewohnt, mit Cannabisblüten und insbesondere deren Verabreichung und Dosierung umzugehen. Standardisierte Extrakte oder definierte Monosubstanzen wie THC/Dronabinol, Nabilon oder CBD passen zu den Applikationsstandards anderer Medikamente und insbesondere zu Betäubungsmitteln. Dabei lassen sich die Blüten über eine inhalative Anwendung mittels Vaporizer (Verdampfer) sehr gut dosieren, und wir sehen auch eine zunehmende Beliebtheit oraler Applikationsformen von Cannabisblüten unter den Patienten.

esanum: Seit Februar 2009 können Patienten mit einer Ausnahmegenehmigung der Bundesopiumstelle medizinische Cannabisblüten aus Apotheken beziehen. Ein Gesetzesentwurf für 2017 sieht vor, diese Sonderregelung zur Routine zu machen. Wie stehen Sie dem gegenüber?

Dr. Grotenhermen: Es ist wichtig, dass die Prozedur der Ausnahmeerlaubnis bei der Bundesopiumstelle entfällt. Dieses Verfahren war oft ein Hinderungsgrund, dass Ärztinnen und Ärzte sich überhaupt mit dem Thema eingehender befasst haben. Ich habe immer wieder Patienten, die mir von ihren Hausärzten, die eine Therapie mit Cannabis unterstützen, zugewiesen wurden. Das Verfahren erschien ihnen zu kompliziert und in einer Praxis mit großem Patientendurchlauf schwer durchführbar. Jetzt entscheidet nicht mehr eine Behörde über die Notwendigkeit einer Therapie mit Cannabisblüten, sondern Ärzte im Dialog mit ihren Patienten, so wie dies auch für andere Medikamente und Therapieverfahren der Fall ist. Es ist ein Schritt zur Normalisierung.

esanum: Laut BZgA sterben in Deutschland jährlich 74.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholkonsums. Von Cannabis-Toten hört man dagegen eher selten. Viele sehen dies als Anhaltspunkt, Cannabis zu verharmlosen. Ist dieser Vergleich überhaupt angemessen?

Dr. Grotenhermen: Die medizinische Verwendung von Cannabis-basierten Medikamenten oder Cannabisblüten hat nichts mit der Diskussion um eine generelle Legalisierung des Cannabiskonsums zu tun. Bei der Diskussion um einen Zugang für Patienten, die von einer Therapie mit solchen Produkten profitieren könnten, geht es um eine Linderung von Symptomen und Erkrankungen. Hier hat das Bundeswartungsgericht bereits im Jahr 2005 darauf hingewiesen, dass ein solcher Zugang mit Verweis auf Art. 2 des Grundgesetzes (Recht auf körperliche Unversehrtheit) unter bestimmten Voraussetzungen geschaffen werden muss, da dieses Grundrecht auch dadurch verwehrt werden kann, wenn der Staat – etwa durch Verbote – Maßnahmen ergreift, die eine Linderung von Leiden verhindern. Hier geht es nicht um allgemeine Gefahren des Cannabiskonsums, sondern um eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung bei einem bestimmten Patienten. Die medizinische Verwendung von Cannabis hat mit der generellen Legalisierung vielleicht etwa so viel zu tun, wie die Verbesserung der Palliativmedizin durch Opiate mit der Einrichtung von Konsumräumen für Heroin-Abhängige. Das sind jeweils verschiedene Themen, auch wenn es um die gleichen Substanzen bzw. Substanzgruppen (Cannabis/Cannabinoide, Opiate) geht.

esanum: In welchen medizinischen Bereichen erweist sich der Einsatz von Cannabisblüten und Cannabis-basierten Medikamenten als sinnvoll? Was macht die darin enthaltenen Wirkstoffe so einzigartig?

Dr. Grotenhermen: Es gibt keine zweite pharmakologisch wirksame und therapeutisch nutzbare Substanz wie THC (Delta-9-Tetrahydrocannabinol, Dronabinol), die auch nur annähernd ein so breites Wirkungsspektrum aufweist. THC und THC-reiche Cannabisprodukte können bei weit mehr als 50 verschiedenen schweren Erkrankungen therapeutisch genutzt werden. Diese lassen sich mehrheitlich in fünf Gruppen einteilen:

1. Chronische Schmerzen unterschiedlicher Art (Krebsschmerzen, Phantomschmerzen, Arthroseschmerzen, Migräne, etc.)

2. Chronische-entzündliche Erkrankungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Rheuma, Morbus Bechterew, Psoriasis, etc.)

3. Neurologische Erkrankungen, vor allem solche mit einem Hypertonus der Muskulatur (Spastik bei multipler Sklerose, Epilepsie, Tourette-Syndrom, etc.)

4. Appetitlosigkeit mit Gewichtsverlust sowie Übelkeit und Erbrechen (vor allem Nebenwirkungen einer Krebschemotherapie, HIV/Aids)

5. Psychiatrische Erkrankungen (Depressionen, Zwangsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, posttraumatische Belastungsstörung, etc.)

Dazu kommen weitere Erkrankungen, wie Asthma, Glaukom, Reizdarm, etc.

esanum: Verschreiben Sie Ihren Patienten Cannabis?

Dr. Grotenhermen: Ich verschreibe meinen Patienten je nach Indikation den Cannabisextrakt Sativex, Dronabinol oder Cannabidiol (CBD). Wenn die Voraussetzungen vorliegen, so unterstütze ich sie bei ihrem Antrag auf eine Ausnahmeerlaubnis zur ärztlich begleiteten Selbsttherapie mit Cannabisblüten aus der Apotheke bei der Bundesopiumstelle. Etwa 290 meiner Patienten besitzen eine solche Ausnahmeerlaubnis.

esanum: Was muss der behandelnde Arzt beachten, wenn künftig vermehrt Cannabis-Rezepte ausgestellt werden?

Dr. Grotenhermen: Es gibt vor allen Dingen zwei wichtige Aspekte, die zu beachten sind, wenn sich ein Arzt oder eine Ärztin erstmals mit diesem Thema befasst. Der eine Aspekt betrifft den organisatorischen Rahmen, in dem die Cannabis-Anwendung stattfindet. Es muss darauf geachtet werden, dass eine Verschreibung zulasten der gesetzlichen Krankenkassen nur erfolgen sollte, wenn mit der Krankenkasse vorher abgeklärt wurde, ob die Kosten tatsächlich erstattet werden. Geschieht das nicht, so droht ein Regress. Diese Abklärung kann durch den Arzt oder den Patienten erfolgen. Der andere Aspekt betrifft die Therapie. Unabhängig davon, welches Mittel eingesetzt wird, so muss grundsätzlich eine einschleichende Therapie, mit kleinen Dosen beginnend, die langsam gesteigert werden, erfolgen. Auf diese Weise lassen sich starke Nebenwirkungen vermeiden. Der Vorteil von Cannabisprodukten ist, dass sie langzeitig sehr gut vertragen werden, ohne Schäden an Magen, Leber, Nieren oder Herz zu verursachen. Ein Nachteil ist die Notwendigkeit der individuellen Dosisfindung und der doch relativ häufigen akuten Unverträglichkeit. Cannabis wirkt auch nicht immer so zuverlässig wie andere Medikamente. Die interindividuelle Variabilität hinsichtlich Ansprechbarkeit, akuter Verträglichkeit und erforderlicher Dosis ist im Vergleich zu vielen anderen Medikamenten recht groß. Ein Beispiel: Cannabisprodukte wirken bei neuropathischen Schmerzen nur bei etwa jedem dritten bis fünften Patienten gut. Auf der anderen Seite gibt es viele opiate-resistente Schmerzpatienten, die gut auf Cannabisprodukte ansprechen.

esanum: Cannabis-basierte Medikamente werden oftmals als Spray, Tropfen oder in Tablettenform eingenommen. Wie sieht es jedoch mit Cannabisblüten aus?

Dr. Grotenhermen: Die verbreitetste Anwendung von Cannabisblüten ist die Inhalation. Da das Rauchen der Blüten aus ärztlicher Sicht nicht zu empfehlen ist, sollte eine Inhalation mittels eines Verdampfers (Vaporizer) erfolgen. Der weltweit einzige als Medizingerät zugelassene Verdampfer für Cannabisblüten wird in Deutschland von dem Unternehmen Storz & Bickel hergestellt. In den vergangenen Jahren kann man in Ländern, in denen es schon seit mehreren Jahren legale Möglichkeiten zur medizinischen Verwendung von Cannabisblüten gibt, wie beispielsweise Israel und Kanada, einen Trend zu oralen Zubereitungen von Cannabisblüten feststellen. Eine einfache Möglichkeit ist die Erhitzung von Cannabisblüten im Backofen für eine Stunde auf 100-110 °C, was für eine optimale Decarboxylierung der Cannabinoide sorgt. Das fein zerbröselte Material kann dann exakt dosiert weiterverarbeitet oder einfach mit einem Löffel Joghurt eingenommen werden.

esanum: Sehen Sie in der Behandlung mit Cannabisblüten und Cannabis-basierten Medikamenten eine potentielle Gefahrenquelle? Wie gestaltet sich der Alltag der Patienten? Ist zum Beispiel die Teilnahme am Straßenverkehr hinreichend erforscht?

Dr. Grotenhermen: Unser Mitglied im IACM-Vorstand aus Israel, Ilya Reznik, berichtete mir, dass in Israel eine Studie gezeigt habe, dass Patienten, die Cannabis aus medizinischen Gründen einnehmen und am Straßenverkehr teilnehmen, nicht häufiger Verkehrsunfälle verursachen als nüchterne und auch anderweitig nicht beeinträchtigte Verkehrsteilnehmer. Einige meiner Patienten haben im Rahmen einer MPU (Medizinisch-Psychologische Untersuchung) unter dem Einfluss ihres Medikaments Tests zur psychomotorischen Leistungsfähigkeit durchgeführt. Mir ist kein Fall bekannt, nachdem ein Patient diese Tests nicht bestanden hätte. Es ist sinnvoll, Cannabis und Cannabis-basierte Medikamente hinsichtlich der Beurteilung von Fahrtüchtigkeit und Fahreignung genauso zu behandeln wie andere Medikamente, die mit einer psychomotorischen Beeinträchtigung verbunden sein können (Opiate, Benzodiazepine, Antihistaminika, etc.). Es gibt Patienten, die unter dem Einfluss von Cannabis beeinträchtigt sind und daher beispielsweise ihr Medikament nur abends einnehmen oder auf die Teilnahme am Straßenverkehr verzichten, und andere Patienten, die nicht relevant beeinträchtigt sind, oder deren psychomotorische Leistungsfähigkeit sogar verbessert wird, wie insbesondere bei Tourette-Patienten und Menschen mit ADHS.

esanum: Sollten Krankenkassen dafür aufkommen? Welche Voraussetzungen müssten dafür erfüllt werden?

Dr. Grotenhermen: Ich kenne keinen Arzt, der leichtfertig Cannabis oder Cannabis-basierte Medikamente verschreibt. Ich stelle eher eine große Zurückhaltung und Vorsicht fest. Wie mehrere Beiträge von Experten und Verbänden in der Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss zum geplanten Gesetz am 21. September 2016 in Berlin deutlich machten, ist es nur schwer vorstellbar, wie die Krankenkassen bzw. der Medizinische Dienst der Krankenkassen beurteilen kann, ob eine Therapie notwendig ist und erstattet werden sollte oder nicht. Das Betäubungsmittelgesetz verpflichtet bereits dazu, dass Ärztinnen und Ärzte Betäubungsmittel nur einsetzen sollen, wenn andere Therapieverfahren nicht ausreichend wirksam sind. Wenn sie aber vom Arzt eingesetzt werden, sollten sie auch erstattet werden. Eine Entscheidung darüber durch andere Instanzen würde sich schwierig gestalten, zu einem erheblichen bürokratischen Aufwand mit ausführlichen Begründungen für die Notwendigkeit einer Therapie und zu Fehleinschätzungen führen. Wenn wir nicht wollen, dass die Möglichkeit einer Therapie mit Cannabis-basierten Medikamenten vom Geldbeutel des Patienten abhängt, muss Arzt bzw. Ärztin über Verschreibung und Kostenübernahme entscheiden.

Presseschau: Krankenkasse muss Patient Cannabis-Tropfen zahlen (Der Spiegel)

Das Sozialgericht Hannover hat einem Kläger Recht gegeben, der seine Krankenkasse auf die Kostenübernahme für Dronabinol verklagt hatte. Man darf davon ausgehen, dass die nächst höhere Instanz wie in vergleichbaren Fällen das Urteil wieder aufheben wird.

Krankenkasse muss Patient Cannabis-Tropfen zahlen

Nach einem schweren Motorradunfall leidet Martin Keese unter chronischen Schmerzen. Nur Cannabis verschafft ihm Linderung - doch die Kasse wollte nicht zahlen. Jetzt muss sie.

Der Leidensweg von Martin Keese begann vor 14 Jahren. Damals hatte der gelernte Dreher auf dem Mofa einen schweren Verkehrsunfall. Ein Autofahrer nahm ihm die Vorfahrt, Keese krachte bei voller Fahrt auf den Asphalt. Ärzte stellten einen fünffachen Bruch der Wirbelsäule fest, ein Teil des Beines wurde später amputiert.

Der 43-Jährige musste mehr als 40 Operationen über sich ergehen lassen. "Seit 2009 leide ich unter chronischen Schmerzen", sagt er. Mehrere Ärzte kamen zu dem Schluss, Cannabis könne am besten Linderung verschaffen.

Innerhalb einer Projektphase zahlte Keeses Krankenkasse IKK Classic mehr als zwei Jahre eine Therapie mit ärztlich verschriebenen Cannabis-Extrakt-Tropfen (Dronabinol). Als das Projekt im Herbst 2014 auslief, verweigerte die Kasse weitere Zahlungen. Das wird sich nun ändern.

2000 Euro im Monat für Cannabis-Extrakt

Das Sozialgericht Hannover verpflichtete die IKK Classic in einem außergewöhnlichen Eilentscheid, die Kosten für Dronabinol zu übernehmen (Az: S 10 KR 1420/16 ER). Es geht um etwa 2000 Euro im Monat.

Der Richterspruch sei eine Ausnahme, sagte der Hamburger Rechtsanwalt Oliver Tolmein, juristischer Experte für das Thema Cannabis als Medizin. Cannabis ist eine illegale Droge. Anbau, Besitz und Handel werden in der Regel strafrechtlich verfolgt. Seit 2011 ist es Ärzten jedoch möglich, cannabishaltige Arzneimittel zu verschreiben.

Wer aus medizinischen Gründen Dronabinol oder Cannabis in Blütenform konsumieren will, zahlt fast immer selbst. Für den Konsum der Blüten ist eine Ausnahmegenehmigung nötig, die etwa 900 Patienten in Deutschland erhalten haben.

In dem Beschluss vom 30. August, der SPIEGEL ONLINE vorliegt, heißt es nun: Grundsätzlich müsse eine Kasse Dronabinol zwar nicht erstatten. Das Bundesverfassungsgericht aber habe entschieden, dass Versicherte in Ausnahmefällen Leistungen erhalten könnten, die nicht im Leistungskatalog enthalten seien.

Dabei gehe es um Patienten, die todkrank seien oder vergleichbar leiden würden. Der zuständige Richter in Hannover beruft sich darauf, dass Keese Schmerzen beschreibe, "die sich bereits in Alltagssituationen auf ein geradezu unerträgliches Maß steigern". Es handele sich offenkundig um den Fall eines "schwersten chronischen Schmerzgeschehens", der mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung auf eine Stufe zu stellen sei.

"Neue Regelung wäre wünschenswert"

Keeses Anwalt Benjamin Schmidt aus Laatzen zeigte sich erleichtert über die Entscheidung. "Das Verfahren war für meinen Mandanten eine zusätzliche Belastung." Unter Tränen habe Keese vor Gericht seinen Leidensweg schildern müssen. Schmidt sagte, es sei zu hoffen, dass sein Mandant kein Einzelfall bleibe. "Eine neue Regelung wäre wünschenswert."

Der Jurist spielte damit auf ein geplantes Gesetz der Bundesregierung an. Wohl ab Frühjahr 2017 soll Cannabis auf Rezept generell von Kassen erstattet werden. Zurzeit wird der Gesetzentwurf im Parlament beraten.

Martin Keese wäre womöglich einiges erspart geblieben, wenn es ein solches Gesetz bereits gäbe. Im Kampf gegen die Schmerzen experimentierte er mit Kokain, wurde abhängig, bekam Depressionen. Zurzeit lebt er in einer Entzugsklinik. Er sagt: "Ich fühle mich von der Politik im Stich gelassen."

Presseschau: «Die Pharma hält sich in der Cannabis-Forschung sehr zurück» (SFR, Schweiz)

Nach einem Bericht der Schweizer Fernsehens besaßen im Oktober 2016 insgesamt 1682 Personen eine Ausnahmebewilligung zur Verwendung von Medikamenten auf Cannabisbasis (davon 1106 Erstgesuche und 576 Verlängerungen).

«Die Pharma hält sich in der Cannabis-Forschung sehr zurück»

Welche Hürden bestehen aktuell für den medizinischen Einsatz von Cannabis, und sind Änderungen in der Bewilligungspraxis in Sicht? Nachgefragt bei Markus Jann, Leiter Sektion Drogen beim Bundesamt für Gesundheit BAG.

SRF:Cannabis wird weltweit seit Jahrhunderten als Medikament eingesetzt. Bei welchen Beschwerden ist eine Wirkung wissenschaftlich belegt?

Markus Jann: Das gilt für starke Krämpfe, insbesondere bei Multipler Sklerose, chronische Schmerzzustände, Appetitlosigkeit bei AIDS sowie Übelkeit, Schmerzen oder Appetitlosigkeit bei Krebs.

Bei einer Reihe von anderen Krankheiten, zum Beispiel ADHS, Schlafkrankheiten, Parkinson oder auch Alzheimer gibt es wissenschaftliche belegte Hinweise auf eine Wirkung, die Datenlage ist jedoch noch nicht ausreichend für eine abschliessende Beurteilung, da braucht es weitere Forschung.

In der Schweiz ist der Konsum von Cannabis nach wie vor verboten. Für die medizinische Anwendung ist eine Ausnahmebewilligung des BAG nötig. Wie komme ich als Patient zu so einer Bewilligung?

Der behandelnde Arzt muss mit dem schriftlichen Einverständnis des Patienten beim BAG ein Gesuch einreichen. Auf unserer Website ist eine entsprechende Wegleitung zu finden.

Der Arzt muss Angaben zu den Symptomen, der Diagnose, der Krankheitsgeschichte und den bisherigen Behandlungsansätzen machen. Nach Vorliegen der vollständigen Gesuchsunterlagen wird das Gesuch innert fünf Tagen entschieden.

Wieso ist die Hürde so hoch?

Das Volk hat mit der Revision des Betäubungsmittelgesetzes die medizinische Verwendung von Cannabis im Grundsatz ermöglicht. Die konkreten Umsetzungsbestimmungen wurden aber äusserst eng gefasst, da befürchtet wurde, dass sonst über die medizinische Verwendung die Cannabis-Legalisierung über die Hintertür angestrebt werden könnte.

Eine vom BAG finanzierte Studie hat Cannabis Mitte 2015 «insgesamt ein vielversprechendes Heilmittelpotenzial» attestiert. Damals hiess es, man werde die Studienergebnisse bei der künftigen Vergabe von Ausnahmebewilligungen einfliessen lassen. Was hat sich seither konkret geändert?

Zum einen hat diese Studie bestätigt, dass die Bewilligungspraxis des BAG dem aktuellen Stand der Forschung entspricht, und zum anderen haben wir jetzt eine Fülle von wissenschaftlich belegten Hinweise auf weitere, viel versprechende Anwendungsmöglichkeiten.

Auch hier braucht es weitere Forschung. Das dauert jedoch, und bis es soweit ist, arbeiten wir vor allem auf der Grundlage von Erfahrungsberichten und Fallstudien. Neue Indikationen werden unter Einbezug einer vom BAG eingesetzten Expertengruppe geprüft.

Ab 2017 wird Cannabis in deutschen Apotheken auf ärztliches Rezept abgegeben. Was bedeutet das für die Bewilligungspraxis hierzulande?

Das hängt im Wesentlichen davon ab, unter welchen Umständen und welche Art von Cannabis abgegeben werden soll. Wenn es im Rahmen einer ärztlichen Behandlung geschieht und ein in Deutschland als Arzneimittel zugelassenes Hanfprodukt abgegeben wird, könnte das die Zulassung von natürlichem Hanf zu medizinischen Zwecken in der Schweiz erleichtern.

Genaueres werden wir erst sagen können, wenn klar ist, wie genau das neue Gesetz in Deutschland umgesetzt werden soll. Offen bleibt natürlich auch für die Schweiz der Weg über eine Gesetzesrevision.

In der Schweiz zeichnet sich keine Änderung des Status quo ab. Warum geht es nicht vorwärts, wenn man doch erkannt hat, dass Hanf als Medikament so viel Sinn macht?

Damit es vorwärts geht, braucht es in erster Linie sehr aufwändige klinische Studien. Die sind notwendig, damit die Zulassung eines neuen Medikaments überhaupt beantragt werden kann. Da zeigt sich die Industrie im Moment doch ziemlich zurückhaltend und hat noch wenig investiert.

Es gibt Anzeichen, dass das besser wird in nächster Zeit, aber im Moment hält man sich doch sehr zurück.

Und warum hält man sich derart zurück?

So ganz genau wissen wir das nicht. Da werden zum einen patentrechtliche Bedenken angeführt, weil sich Cannabis als Pflanze nicht so einfach patentieren lässt. Wir denken aber eher, dass die Pharmaindustrie fürchtet, dass die heilende Wirkung des Cannabis – die sehr günstig zu haben wäre – ihre eigenen Produkte konkurrenzieren würde.