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ACM-Mitteilungen vom 19. November 2011
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Große Mehrheit der Deutschen für medizinische Verwendung von Cannabis
Ein Großteil der Deutschen befürwortet die Verwendung von Cannabis als Medikament. Das geht aus einer Umfrage des Marktforschungsinstituts EarsandEyes hervor. So gaben 81 Prozent der Befragten an, das Gesetz zu begrüßen, nach dem cannabishaltige Arzneien zur Therapie chronischer Schmerzen zugelassen werden. Die Befürwortung war in allen Altersgruppen etwa gleich hoch.
Vierzig Prozent der Deutschen befürworten nach dieser Umfrage die generelle Legalisierug von Cannabis und bejahten die Frage, ob Cannabis rechtlich so behandelt werden sollte wie Alkohol und Tabak. Auch hier war die Zustimmung in allen Altersgruppen etwa gleich hoch. Hauptgründe für den Wunsch nach einer Legalisierung von Cannabis sind: Seine positiven - wie z.B. schmerzstillenden - Wirkungen (63 Prozent), ein Rückgang der organisierten Kriminalität (60 Prozent), der Wunsch nach Selbstbestimmung darüber, ob man Hanf in irgendeiner Form zu sich nehmen möchte oder nicht (57 Prozent) sowie der Wegfall von Streckmitteln bzw. gefährlichen Beimischungen in Cannabis (56 Prozent). Die Legalisierungs-Gegner betrachten Cannabis hingegen als Einstiegsdroge (73 Prozent), die psychisch abhängig macht (61 Prozent) und auch psychische Schäden verursachen kann (54 Prozent).
Letztendlich sind sich die Bürger bewusst (84 Prozent), dass es wohl niemals eine Gesellschaft ohne Drogen geben wird. Die Frage ist nur, wer und wie man idealerweise die Menschen vor gefährlichen Suchtmitteln schützen kann. Nur 38 Prozent der Bürger halten hier Verbote seitens des Staates für das Mittel der Wahl. An dieser repräsentativen Befragung nahmen 1.000 Bundesbürger ab 16 Jahren teil.
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(Quellen: Ergebnisse der Umfrage "Drogen" von EarsandEyes, Pressemitteilung von EarsandEyes vom 14. November 2011, dpa vom 14. November 2011)
Regressforderung der Krankenkasse wegen der Verschreibung von Dronabinol gegen Dr. Knud Gastmeier ist nach einem Urteil des Sozialgerichts Potsdam rechtmäßig
Am 26. September 2011 hat das Sozialgericht Potsdam eine Klage von Dr. Knud Gastmeier gegen eine Regressforderung der AOK gegen Dr. Gastmeier wegen der Verschreibung von Dronabinol zur Appetitsteigerung bei einem Krebskranken mit starkem Gewichtsverlust abgewiesen (Az: S 1 KA 65/06). Die Regressforderung sei berechtigt. Die Klage richtete sich gegen den Beschwerdeausschuss der vertragsärztlichen Versorgung Brandenburg. Beigeladen waren die Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg und die AOK Sachsen-Anhalt. Das Gericht stellte fest: "Vorliegend hat die Verordnung von Marinol dem Versicherten nach den Behandlungsunterlagen des Klägers zwar sofort geholfen, indem der Appetit angeregt wurde und er durch Nahrungsaufnahme zugenommen hat. Dieser nicht erklärbare Erfolg im Einzelfall berechtigte den Kläger jedoch nicht zur Verordnung von Marinol." Es habe trotz dieses Therapieergebnisses keine "auf Indizien gestützte nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf" bestanden, wie sie vom Bundesverfassungsgericht in einem Urteil aus dem Jahr 2005 verlangt werde.
Dr. Gastmeier hatte einem Patienten mit Zungenkarzinom, der an Appetitlosigkeit und Auszehrung (Kachexie) litt, in den Jahren 2000 und 2001 zur Appetitsteigerung das Dronabinol-Präparat Marinol verordnet. Am 15. Oktober 2001 beantragte die AOK die Feststellung eines sonstigen Schadens wegen der Verordnung eines Arzneimittels außerhalb der Indikation. Marinol sei in dem umstrittenen Fall zur Schmerzlinderung eingesetzt worden. Mit Beschluss vom 25.06.2003 lehnte der Prüfungsausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg den Antrag der AOK ab, da die Verordnung entsprechend der Indikation, nämlich zur Verhinderung eines weiteren Gewichtsverlustes erfolgt sei. Dagegen legte die AOK Widerspruch ein. Die AOK wies darauf hin, dass Marinol in den USA nur für die Behandlung der Appetitlosigkeit von Aids-Patienten zugelassen sei. Insofern handle es sich um eine Verwendung außerhalb der zugelassenen Indikation, um einen so genannten Off-Label-Use. Mit Beschluss vom 16.12.2005 setzte der Beschwerdeausschuss der vertragsärztlichen Versorung Brandenburg einen Regress in Höhe von insgesamt etwa 50.000 Euro fest. Marinol sei nur in den USA und Kanada zugelassen. Eine Zulassung bestehe weder in Deutschland noch EU-weit. Für die Behandlung des Gewichtsverlustes seien Alternativen gegeben wesen, wie beispielsweise das Arzneimittel Zofran.
Am 17.03.2006 hat Dr. Gastmeier Klage beim Sozialgericht Potsdam erhoben, um die Aufhebung des Regressbescheides zu erreichen. Zum damaligen Zeitpunkt sei es um das Überleben des Versicherten gegangen, der 25 kg an Gewicht verloren hatte. Er habe die Verordnung von Marinol als die einzige Alternative gesehen. Bei Auslassversuchen sei sofort immer eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes eingetreten. Er habe sich zum damaligen Zeitpunkt auch an die Kassenärztliche Vereinigung gewandt, die ihm zur Absetzung von Marinol geraten habe. Wenn dies nicht möglich sei, solle er es weiter verordnen. Der Versicherte habe an einer lebensbedrohlichen Erkrankung gelitten. Die übliche Behandlung sei nicht ausreichend gewesen. Es habe die Gefahr bestanden, dass der Versicherte verstirbt. Alternative Behandlungsmöglichkeiten hätten nicht bestanden. Auch das vom Beschwerdeausschuss der vertragsärztlichen Vereinigung Brandenburg empfohlene Zofran hätte im Off-Label-Use verwendet werden müssen, da dies nur bei chemotherapeutisch behandelten Patienten zugelassen sei. Gleichwohl habe Dr. Gastmeier die Anwendung von Zofran geprüft.
Das Sozialgericht Potsdam stellte nun fest, dass der Regress gegen Dr. Gastmeier rechtmäßig sei. "Der Kläger durfte das Arzneimittel Marinol weder zur Behandlung der Anorexie (Appetitlosigkeit bzw. Herabsetzung des Triebes zur Nahrungsaufnahme) noch zur Behandlung der Kachexie (Auszehrung bzw. krankheitsbedingter und ungewollter Gewichtsverlust/BMI unter 18) bei Zungenkarzinom verordnen." Das Sozialgericht führt aus, dass zu prüfen war, ob die vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98), ergänzt durch den Beschluss vom 6.02.2007 (1 BvR 3101/06) aufgestellten Voraussetzungen zu bejahen sind. "Bei kumulativer Erfüllung der folgenden Voraussetzungen erstreckt sich danach der Versorgungsanspruch des Versicherten über die Beschränkungen der arzneimittelrechtlichen Zulassung hinaus, d.h. sowohl bei Fehlen jeglicher Arzneimittelzulassung als auch bei Einsatz außerhalb des in der Zulassung ausgewiesenen Anwendungsbereiches.
- Es muss eine lebensbedrohliche oder in der Regel tödlich verlaufende Erkrankung vorliegen.
- Bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung.
- Bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten Behandlungsmethode besteht eine auf Indizien gestützte nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf (BverfG, a.a.O.)." in
Das Sozialgericht bejahte im konkreten Fall das Vorliegen der ersten beiden, durch das Bundesverfassungsgericht geforderten Voraussetzungen:
"Die vom Kläger [Dr. Gastmeier] behandelte Tumorkachexie war nach Auffassung der Kammer im Jahre 2000 in einem Stadium, das als lebensbedrohlich anzusehen war. Denn Kachexie an sich ist eine dynamisch verlaufende Erkrankung, die in ihrem Fortlauf zum Tode führen kann. Die Kammer weicht hier auch nicht von der Entscheidung des BSG vom 13.10.2010 (a. a. O.) ab. Denn die Bezugnahme des BSG auf die Grunderkrankung neben der tumorindizierten Kachexie erfolgte hier allein im Zusammenhang mit der Frage der nicht ganz fern liegenden Aussicht auf Heilung.
Auch die weitere Voraussetzung, das Fehlen von anerkannten wirksamen kurativen Behandlungstherapien, ist zum damaligen Zeitpunkt – wie auch noch heute zu bejahen. Das Gericht bezieht sich hier insbesondere auf die Ausführungen in Wikipedia. Danach gab es weder damals noch heute einen von der FDA oder Europäischen Kommission zugelassenen Arzneistoff für die Therapie der Tumorkachexie, was auch vom Beklagten und der Beigeladenen zu 2. [AOK] nicht widerlegt worden ist. Es gibt auch heute lediglich Empfehlungen zur Behandlung der Tumorkachexie, ohne dabei zu wissen, inwiefern das verordnete Arzneimittel oder die Behandlung tatsächlich auf die Tumorkachexie wirkt. Weiter wird hier ausgeführt: "Der Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln und für andere Indikationen zugelassene Fertigarzneimittel ist rein palliativ. Eine unmittelbare kurative Behandlung der Tumorkachexie ist derzeit nicht bekannt. Eine Heilung ist nur möglich, wenn die der Tumorkachexie zu Grunde liegende Krebserkrankung beseitigt wird (mittelbare Behandlung). Dies wäre die wirksamste Therapie der Tumorkachexie. Da die Tumorkachexie häufig erst in einem späten Stadium einer Krebserkrankung auftritt, sind die Chancen auf eine Heilung der Krebserkrankung und damit der Tumorkachexie in der Regel sehr gering. In vielen Fällen ist eine Heilung der Grunderkrankung "Krebs" durch therapeutische Maßnahmen nicht mehr möglich. Die betroffenen Patienten sind therapieresistent – "austherapiert". Das wesentliche Therapieziel bei der Tumorkachexie ist es, die Lebensqualität der betroffenen Patienten signifikant zu verbessern. Daneben soll die Gesamtüberlebenszeit erhöht und der Körper für tumortherapeutische Maßnahmen (Operation, Chemotherapie, Strahlentherapie) gestärkt werden." (unter: Tumorkachexie: www.wikipedia.de.).
Auch das von der Beigeladenen zu 2) [AOK] und vom Beklagten [Beschwerdeausschuss der vertragsärztlichen Versorgung Brandenburg] angeführte Arzneimittel Zofran dürfte hier nicht als alternative Behandlungsmethode in Betracht kommen, da es wegen Übelkeit und Erbrechen bei chemotherapeutisch behandelnden Patienten eingesetzt wird. Vorliegend ging es jedoch dem Kläger um die Behandlung der Tumorkachexie, letztlich um eine Appetitanregung."
Allerdings sieht das Sozialgericht die dritte Voraussetzung nicht als erfüllt an, sodass dieser Punkt zur Ablehnung der Klage von Dr. Gastmeier führte:
"Zu verneinen ist jedoch die weitere Voraussetzung. Danach darf der Versicherte dann nicht von der Gewährung einer von ihm gewählten ärztlich angewandten Behandlungsmethode ausgeschlossen werden, wenn diese eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bietet. Das Bundesverfassungsgericht ging in seiner Entscheidung dabei davon aus, dass das eingesetzte Mittel zur Behandlung der Grunderkrankung, hier das Zungenrandkarzinom, eingesetzt wird. Später hat das Bundesverfassungsgericht dies ergänzt und ausgeführt, dass es nicht nur um die Behandlung der Grunderkrankung gehe, sondern um die Einwirkung der Behandlung auf das Gesamtrisikoprofil (BverfG, Beschluss vom 6.02.2007, a. a. O.). Das BSG ging dann in seiner Entscheidung vom 13.10.2010 (a. a. O.) davon aus, das damit aber nicht in Zweifel gezogen ist, dass es sich auch in solchen Fällen um die Einwirkung auf die lebensbedrohliche Erkrankung handeln muss. Von einer Einwirkung auf die Grunderkrankung – Zungenrandkarzinom – des Versicherten ging auch der Kläger nicht aus. Denn Anliegen seiner Behandlung mit Marinol war die Tumorkachexie. Aber gerade insofern konnte der Kläger nicht von einer auf Indizien gestützten auch nur kleinen Aussicht auf Heilung oder sprübarer positiver Einwirkung ausgehen. Denn die Wirkungsweise von Marinol bei der Tumorkachexie ist selbst heute noch nicht bekannt. Bekannt und nachgewiesen war und ist allein die appetitanregende Wirkung von Cannabinoiden. (...) Vorliegend hat die Verordnung von Marinol dem Versicherten nach den Behandlungsunterlagen des Klägers zwar sofort geholfen, indem der Appetit angeregt wurde und er durch Nahrungsaufnahme zugenommen hat. Dieser nicht erklärbare Erfolg im Einzelfall berechtigte den Kläger jedoch nicht zur Verordnung von Marinol. Die den Behandlungsunterlagen mit der Verordnung von Marinol gleichzeitig eingetretene Schmerzlinderung, insbesondere der Schluckbeschwerden sieht die Kammer wie der Kläger "nur" als eine positive Nebenwirkung des eigentlichen Therapieziels an. (...)"
(Quelle: Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 26. September 2011)