- Veröffentlicht
- Zuletzt aktualisiert
- Lesezeit
ACM-Mitteilungen vom 15. Juli 2017
- Authors
Liebe Leserin, lieber Leser,
kommt nun doch Bewegung in die Diskussion über die Preise von Medizinalcannabisblüten aus der Apotheke?
Während das Bundesgesundheitsministerium darauf verweist, dass die Preise der in Apotheken abgegebenen Cannabisblüten so hoch sind, weil sie als Rezepturarzneimittel abgegeben werden müssen, gibt es offenbar Diskussionen hinter den Kulissen.
Die Behandlung als Rezepturarzneimittel geht mit einen Aufschlag von 100 % auf den Einkaufspreis und die Überprüfung des Inhalts der Dosen durch den Apotheker einher. Kürzlich berichtete mir ein Patient von einer neuen Variante. Ein Apotheker schlug zwar 100 % auf den Einkaufspreis auf, was zu einem Preis von 113,05 € führte, gab die Dose aber ungeöffnet ab. Die Apotheke eines meiner Patienten besteht darauf, Cannabis nur nach § 5 Apothekenpreisverordnung abzugeben, was zu Kosten von 200-250 € für 5 g Cannabisblüten führt. Das stehe so im Gesetz – was nicht zutrifft. Er ließ sich auch nicht durch einen Hinweis auf einen Artikel der Bundesapothekerkammer umstimmen, in dem darauf hingewiesen wurde, dass Cannabisblüten nach § 4 Apothekenpreisverordnung (mit Kosten von 20-25 € pro Gramm) oder nach § 5 (mit Kosten von 40-50 € pro Gramm) abgegeben werden können.
Dagegen berechnete ein anderer Apotheker, der erstmals „5 g Cannabisblüten unzerkleinert Bedrocan“ belieferte, seinem Kunden 72,64 € bei einem Einkaufspreis von 51 €. Er schrieb mir: „Ich kenne die aktuelle Preisdiskussion und habe aus Überzeugung die im Anhang durchgeführte Preiskalkulation durchgeführt. Dies ist mein Beitrag zur Versachlichung der aufgeheizten Diskussion.“ Wir haben seine Apotheke in unsere Liste der Apotheken mit günstigen Preisen aufgenommen.
Ein Mitglied der ACM berichtete in der internen Mailingliste von Patienten des SCM (Selbsthilfenetzwerk Cannabis Medizin) über sein Gespräch mit einem Vertreter seiner Krankenkasse, nachdem er den Verwaltungsrat angeschrieben hatte:
„Zusammenfassung des Gesprächs, das etwa 45 Minuten gedauert hat: Sie sind der gleichen Meinung, dass die Preise völlig überhöht sind, dass das so nicht bleiben kann, und sie arbeiten bereits über den Gesamtverband der Krankenkassen daran, mit der Apothekerkammer zu einer Regelung zu kommen. Nur, die Apothekerkammer zeigt sich sehr hartleibig, und zusammen mit der Politik ist man dabei, hier eine Lösung zu erarbeiten. Im Moment ist die Abrechnungsweise der Apotheker rechtens, so sind im Moment die Verträge, aber die Verträge passen nicht mehr in die Zeit und zu der gegenwärtigen Situation bei den Medizinalcannabisblüten. Die Krankenkassen wollen diesen Zustand auf keinen Fall so hinnehmen und wollen auf jeden Fall, dass die Preise sich nach unten bewegen.“
Wir sind gespannt.
In dieser Ausgabe der ACM-Mitteilungen findet sich auch die erste Auswertung der Umfrage des SCM zu Erfahrungen von Patienten mit der Kostenübernahme durch ihre Krankenkassen. Danach gab es unter den Teilnehmern bisher 93 Kostenübernahmen durch die jeweils zuständige Krankenkasse und 226 Ablehnungen. Die Umfrage ist sicherlich nicht repräsentativ, da Patienten, deren Antrag auf eine Kostenübernahme abgelehnt wurde, vermutlich ein höheres Engagement bei dieser Problematik zeigen. Ein Artikel aus der Jungen Welt trägt passend die Überschrift „Die Wut der Patienten“.
Viele Patienten haben große Probleme, einen Kassenarzt zu finden, der cannabisbasierte Medikamente oder Cannabisblüten verschreibt. Ein Patient, mit dem ich in Kontakt stehe, berichtete mir, er habe mit seiner Krankenkasse gesprochen, und diese sei aufgeschlossener gewesen, als er erwartet habe. Die Krankenkasse habe eine telefonische Beratung mit einem Schmerztherapeuten vermittelt. Dieser habe sich seine Befunde angeschaut, sich sein Leiden angehört und erklärt, dass er eine Therapie mit Cannabis im konkreten Fall befürworte. Er sei sehr optimistisch, dass er jetzt eine Lösung finde. Vielleicht ist dies auch eine Möglichkeit für andere.
Viel Spaß beim Lesen!
Franjo Grotenhermen
Auswertung der Umfrage zur Kostenübernahme durch die Krankenkassen
Die ACM hat eine Online-Umfrage gestartet, um eine Übersicht über die Reaktionen der Krankenkassen und die Bereitschaft von Ärzten zur Unterstützung der Patienten zu gewinnen. Wir möchten alle Patienten bitten, daran teilzunehmen.
Hier die erste Auswertung von 412 Fragebögen, davon 128 Patienten mit einer Ausnahmeerlaubnis (Stand 11.7. 2017).
Krankenkasse -- Kostenübernahme -- abgelehnt -- noch nicht entschieden
AOK -- 28 -- 52 -- 18
Barmer EK -- 10 -- 32 -- 7
IKK -- 1 -- 22 -- 1
TKK -- 20 -- 42 -- 12
DAK -- 8 -- 18 -- 2
Hallesche -- 1 -- 0 -- 0
SDK -- 0 -- 1 -- 0
Viactiv -- 1 -- 1 -- 0
AXA -- 2 -- 0 -- 0
Knappschaft -- 2 -- 7 -- 0
PbeaKK -- 3 -- 0 -- 0
Debeka -- 2 -- 2 -- 0
KKH -- 1 -- 3 -- 0
Signal -- 1 -- 0 -- 0
Securvita BKK -- 0 -- 3 -- 1
PostbeamtenKK -- 2 -- 0 -- 0
Audi BKK -- 0 -- 2 -- 1
Allianz -- 0 -- 1 -- 0
Energie BKK -- 0 -- 2 -- 0
Pronovas BKK -- 0 -- 7 -- 0
Bosch BKK -- 3 -- 0 -- 0
Werra Meissner BKK -- 0 -- 1 -- 0
Bahn BKK -- 1 -- 5 -- 0
HKK -- 1 -- 0 -- 2
BIG direkt -- 0 -- 5 -- 0
R+V BKK -- 0 -- 2 -- 0
Siemens BKK -- 1 -- 1 -- 0
KBA BKK -- 0 -- 1 -- 0
Verbund plus BKK -- 0 -- 2 -- 0
BKK (?) -- 1 -- 1 -- 0
Gildemeister Seidensticker -- 0 -- 1 -- 1
HEK -- 0 -- 4 -- 0
MH plus BKK -- 1 -- 1 -- 0
Inter -- 0 -- 1 -- 0
Aesculap Tuttlingen BKK -- 0 -- 1 -- 0
Central -- 0 -- 2 -- 0
BMW BKK -- 1 -- 0 -- 0
Pfalz BKK -- 1 -- 1 -- 0
Mobil Oil BKK -- 1 -- 0 -- 0
WMF BKK -- 0 -- 1 -- 0
Deutsche Bank BKK -- 0 -- 1 -- 0
Gesamt -- 93 -- 226 -- 45
Danach wurden bisher 93 Anträge positv beschieden, 226 abgelehnt, und über 45 wurde noch nicht abschließend entschieden. Die Umfrage wird weitergeführt.
Presseschau: Cannabis auf Rezept: Apotheker finden‘s gut (Pharmazeutische Zeitung)
Nach einer Umfrage des Instituts für Handelsforschung in Köln begrüßt eine knappe Mehrheit der Apotheker das Gesetz zu Cannabis als Medizin.
Cannabis auf Rezept: Apotheker finden‘s gut
Die Mehrheit der Apotheker (51,1 Prozent) steht der gesetzlichen Neuregelung von Cannabis als Medizin positiv gegenüber. Das geht aus einer Apokix-Umfrage des Instituts für Handelsforschung (IFH) Köln unter rund 200 Apothekenleitern hervor. Demnach gefällt knapp 82 Prozent der Befragten besonders, dass Schwerkranke nun neue Therapiemöglichkeiten erhalten.
Seit März 2017 können Ärzte Arzneimittel auf Basis von Cannabis verschreiben, wenn andere Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft oder aus ärztlicher Sicht nicht sinnvoll sind. Die Kosten werden dann von den Kassen erstattet. Laut IFH-Auswertungen gaben drei von zehn Apothekern an, dass sich das neue Gesetz auch auf die Nachfrage ausgewirkt hat. Seitdem seien bei ihnen mehr Medikamente aus diesem Bereich über den HV-Tisch gegangen.
Für fast alle Umfrageteilnehmer stellt die Prüfung der Cannabisblüten nach den Vorgaben der Apothekenbetriebsordnung allerdings eine Herausforderung im Alltag dar: Rund 98 Prozent sind der Meinung, dass der sachgerechte Check mit einem hohem Aufwand verbunden ist. Insgesamt stehen knapp 30 Prozent der Apotheker den Neuregelungen unentschlossen gegenüber, jeder Fünfte lehnt sie sogar ab.
Presseschau: Legal, aber kriminell teuer (Jungle.World)
Ein Artikel in Jungle World berichtet über die hohen Preise für Cannabisblüten in Deutschland.
Die Etablierung von Cannabis als Medizin verläuft in Deutschland nicht gerade flink, sondern eher angestrengt bürokratisch. Aber sie läuft.
Eine neue Behörde, verschiedene Leitfäden, eine Ausschreibung auf EU-Ebene, eine neue Vorschrift im Sozialgesetzbuch – die Mühlen der deutschen Bürokratie sind angelaufen, aber sie mahlen langsam. Die Cannabisagentur existiert noch nicht, aber sie hat bereits erste Mitarbeiter. Die Ausschreibung für den Anbau von Cannabis für medizinische Zwecke in Deutschland wurde unter dem Titel »Medizinische Ausrüstungen, Arzneimittel und Körperpflegeprodukte« im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Die Apotheken haben die Gelegenheit genutzt, die Preise für Cannabis zu medizinischen Zwecken anzuziehen. Solange Cannabisprodukte nur über eine betäubungsmittelrechtliche Ausnahmegenehmigung in Apotheken erhältlich waren, kalkulierten die Apotheken ihre Preise selbst und rechneten dabei vielfach eher bescheiden ab.
Arzneimittelkonzerne haben an der Erforschung der palliativen Wirkung einer Pflanze, die einfach nur angebaut werden muss, wenig Interesse.
Nun ist medizinisches Cannabis grundsätzlich legal und unterliegt damit § 4 der Arzneimittelpreisverordnung: »Bei der Abgabe eines Stoffes, der in Apotheken in unverändertem Zustand umgefüllt, abgefüllt, abgepackt oder gekennzeichnet wird, sind ein Festzuschlag von 100 Prozent (Spanne 50 Prozent) auf die Apothekeneinkaufspreise ohne Umsatzsteuer zu erheben.« Im Ergebnis sind so Preissteigerungen von etwa 14 Euro auf 24 Euro pro Gramm erfolgt. Für Jan K. (Name geändert), einen Patienten, dessen Ehefrau knapp 2 000 Euro im Monat verdient und der selbst über etwa 500 Euro Rente verfügt, heißt das: Die circa 700 Euro Kosten für die Cannabisbehandlung der schweren Symptome seiner Multiplen Sklerose, die er bislang gerade noch selbst tragen konnte, sind jetzt auf 1 200 Euro gestiegen – zu viel für ihn. Eigentlich sollten die Kostensteigerungen kein Problem sein – schließlich hat das am 10. März in Kraft getretene »Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften« nicht nur Cannabis als Medizin legalisiert, es sollte vor allem erreichen, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für die Behandlung mit getrockneten Cannabisblüten, Cannabisextrakten und Fertigarzneimitteln auf Cannabisbasis tragen. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hatte die Verabschiedung des in seinem Haus erdachten Gesetzes im Januar begrüßt: »Schwerkranke Menschen müssen bestmöglich versorgt werden. Dazu gehört, dass die Kosten für Cannabis als Medizin für Schwerkranke von ihrer Krankenkasse übernommen werden, wenn ihnen nicht anders wirksam geholfen werden kann. Das ist auch ein weiterer Schritt zur Verbesserung der Palliativversorgung. Außerdem wird es eine Begleiterhebung geben, um den medizinischen Nutzen genau zu erfassen.«
Die Worte des Ministers und erst recht das Gesetz haben die Krankenkassen in Alarmstimmung versetzt – dabei geht es einerseits um Cannabis, wesentlich aber auch um ordnungspolitische Prinzipien des Sozialgesetzbuchs (SGB). Schon die Vorstellung, Patienten, seien sie nun schwerkrank oder nicht, könnten tatsächlich einen Anspruch auf »bestmögliche Versorgung« erheben, jagt den Verantwortlichen im Krankenkassensystem kalte Schauer über den Rücken, ist doch für sie das in der Notverordnung von 1931 wurzelnde Wirtschaftlichkeitsgebot, demzufolge die Leistungen »ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich« sein müssen und »das Maß des Notwendigen nicht überschreiten« dürfen, der Leitfaden für das gesamte Leistungsgeschehen. Ebenso gravierend ist die zentrale Rolle der Evidenz. Was nicht evidenzbasiert, also auf empirische Belege gestützt ist, soll möglichst nicht geleistet werden.
Für Cannabis, zumal in Form getrockneter Blüten, gibt es im großen Maßstab bisher kaum Evidenz. Arzneimittelkonzerne haben an der Erforschung der palliativen Wirkung einer Pflanze, die einfach nur angebaut werden muss, wenig Interesse. Selbst Fertigarzneimittel daraus zu entwickeln, erscheint wenig attraktiv, zumal viele Patienten die Pflanze der Pille oder dem Spray vorziehen.
Auch ansonsten war in der Vergangenheit Forschungsförderung zu Cannabis eher eine Rarität. Das beruht auf rechtlichen Schwierigkeiten, schließlich waren Cannabisblüten, anders als das auf Cannabisbasis hergestellte Arzneimittel »Dronabinol«, bis vor kurzem als »nicht verschreibungsfähig« gelistet, weswegen Ärzte die Behandlung mit der Cannabispflanze auch nur begleiten und nicht verordnen durften. Aber auch kulturell und gesellschaftspolitisch wollte man der Droge Cannabis keinen Weg in die deutschen Haushalte bahnen – gerade weil sie harmloser erscheint als Heroin, Opium oder die Drogen aus dem Labor, weckt sie die schlimme Befürchtung, sie könnte Betäubungsmittelkonsum gesellschaftsfähig machen.
Das Bundesverwaltungsgericht vertrat dabei eine recht liberale Position. Es bedachte die hartnäckig klagenden Patienten 2016 mit einem Urteil, das ihnen den Eigenanbau der begehrten Medizin erlaubt. Voraussetzung dafür ist, dass die Krankheit schwer genug ist, eine akzeptable Alternativtherapie nicht zur Hand und wenigstens eine gewisse Aussicht darauf besteht, dass Cannabis lindernd wirken kann.
Für Bundesgesundheitsminister Gröhe bot dieses Urteil die Gelegenheit, die Flucht nach vorne anzutreten. Wer den Eigenanbau nicht will, so seine Devise, muss Cannabis als Medizin legalisieren und der gesetzlichen Krankenversicherung die Kosten dafür aufbürden. Der Linkspartei und den Grünen gefiel das. Die CDU hielt dem Minister die Treue, die SPD war zerrissen und murrte gemeinsam mit den Krankenkassen. Das Gesetz erfordert jedoch eine Genehmigung der ersten Verordnung von Cannabis durch die Kassen. Nach der Expertenanhörung im Bundestag wurde diese Erfordernis zur Vermeidung offener Obstruktion mit dem Zusatz versehen, dass diese Genehmigung »nur in begründeten Ausnahmefällen« verweigert werden dürfe.
Das Gesetz kam und wurde bejubelt, doch die Lage der Patienten ist seitdem eher schlechter geworden. Die Eigenanbaugenehmigungen (von denen angesichts des neuen Gesetzes wohl nicht mehr als ein halbes Dutzend tatsächlich erteilt wurden) laufen aus, Cannabis in der Apotheke wurde teurer, viele Krankenkassen lassen das Gesetz ins Leere laufen und verlangen von den Patienten Wirksamkeitsnachweise von Cannabis und einen lückenlosen Nachweis der Wirkungslosigkeit aller nur erdenklichen Alternativtherapeutik. Was heißt schon »schwerwiegende Erkrankung«? Dass erwachsene Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) hier Probleme bekommen würden, war abzusehen. Aber die Krankenkassen finden, wenn es sein soll, auch rheumatoide Arthritis, chronische Schmerzen und neuropathische Schmerzen bei Diabetes Mellitus halb so schlimm. Dass selbst die Patienten, die vor der Legalisierung von Cannabis als Medizin Ausnahmegenehmigungen für ihre Therapie von der Bundesopiumstelle bekommen haben, sich nun sagen lassen müssen, eine Behandlung mit Cannabis biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, treibt die Patientinnen und Patienten auf die Barrikaden.
Deswegen ist nun die Auseinandersetzung wieder da, wo sie bereits 16 Jahre lang war – vor Gericht. Nur dass diesmal nicht die Bundesregierung verklagt wird, sondern die Kassen, die das Gesetz behindern. Der Rechtsweg führt diesmal zu den Sozialgerichten. Deren oberste Instanz, das Bundessozialgericht, hat den Ruf, sehr krankenkassenfreundlich zu sein – andererseits ist das Gesetz patientenfreundlich konzipiert. Im Eilverfahren der ersten Instanz haben Sozialgerichte in Berlin und Lüneburg den Anspruch von Patienten nun bereits bekräftigt. Es ist unklar, wie die Politik reagieren wird, die hier von den Sozialverwaltungen düpiert werden soll. Am Ende bleibt die Frage, ob gesellschaftlicher Fortschritt sich auf dem Prozesswege erreichen lässt. Zurzeit müsste die Antwort wohl lauten: Nur dort geht es.
Presseschau: Die Wut der Patienten (Junge Welt)
Auch die Zeitschrift Junge Welt wies darauf hin, dass es Probleme bei der Umsetzung des Gesetzes gibt.
Cannabisgesetz: Kassen weigern sich vielfach, für Behandlung zu zahlen. Schwerkranke drängen, die Heilpflanze vollständig ¬freizugeben
Seit dem 6. März ist Cannabis für Patienten auf Rezept erhältlich, zumindest theoretisch. Doch Ärzte verschreiben die Heilpflanze vielfach nicht, Krankenkassen wollen sie nicht finanzieren. Es sind zwiespältige Erfahrungen, die viele Schwerkranke derzeit machen. Zum Beispiel Ingrid Wunn, Fraktionsvorsitzende der Linken im Ortsbeirat Ginnheim, Eschersheim, Dornbusch in Frankfurt am Main. Das neue Gesetz müsse auf den Müll, sei unpräzise, helfe nichts, empörte sie sich am Dienstag gegenüber junge Welt. Sie muss es wissen. Wunn leidet unter zerebraler Ataxie, einer Krankheit, die Symptome wie bei multipler Sklerose und Parkinson hervorruft. Dabei habe die Pflanze gute Wirkung: »Wenn ich bekifft bin, kann ich 1.000 Meter laufen – nicht nur 200 wie sonst. Ich habe keine Schmerzen mehr, die Wadenmuskulatur entspannt sich.« Viele Leute, die schwerkrank sind und ein Anrecht darauf hätten, die Heilpflanze Cannabis zur Linderung einzunehmen, seien gar nicht in der Lage, sich mit der ganzen Bürokratie auseinanderzusetzen. »Die Patienten sind die Verarschten«, sagt Wunn. »Zuerst gilt es, einen Arzt zu finden, der ein Rezept schreibt, dann, den Ärger mit der Kasse auszufechten. Es sei denn, Du triffst auf einen verständigen Sachbearbeiter.« 2003 hatte sie die Hanf-Initiative Frankfurt am Main gegründet, sich aktiv für die Legalisierung von Cannabis als Rohstoff, Medizin und Genussmittel eingesetzt. Geändert habe sich seither nichts. »Meiner Meinung nach grenzt es an unterlassene Hilfeleistung, wenn Kassen die Kosten nicht übernehmen wollen.« Ingrid Wunn hält es mit der praktischen Umsetzung weiterhin so: »Ich kiffe, und es ist auch gut so.«
Er könne sich vorstellen, dass der Gesetzgeber nun nachbessert, meinte Franjo Grotenhermen, Arzt und Vorsitzender der »Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin«, gegenüber jW. Immerhin habe der Bundestag einstimmig für das Gesetz votiert und festgelegt, wann Kassen zahlen müssen und wann nicht. Auf die Expertise und Meinung des Arztes sei Wert gelegt worden. Aber nur etwa 50 Prozent der Kassen hielten sich daran, übernähmen die Kosten. »Ob ein Patient Cannabis verordnet bekommen muss und wie es bei ihm wirkt, kann aber niemand vom Schreibtisch aus beurteilen, wenn er ihn gar nicht gesehen und behandelt hat.« Nun redeten sich die Kassen heraus: Die Date
nlage sei schlecht, es gebe nicht genug Studien. Ärzte wollten Cannabis mitunter nicht verschreiben, weil ihnen das nötige medizinische Wissen zum komplexen Sachthema fehle oder sie Angst vor Regressforderungen der Kassen hätten. Durch die »unangemessenen Preissteigerungen für Cannabisprodukte nach Inkrafttreten des Gesetzes« sei das noch verstärkt worden, meint Grotenhermen. Monetäre Gründe seien ausschlaggebend für die Haltung der Kassen. Ein Teufelskreis: Dass eine maßlose Verteuerung nach Verabschiedung wie in den letzten Monaten kommen würde, sei wohl dem Gesetzgeber nicht klar gewesen. Nach Grotenhermen könnte alles einfach sein: »Wer Tomaten züchten kann, kann auch Cannabis anbauen. Wäre die Heilpflanze nicht verboten, wäre sie leicht verfügbar.« Mit welchen Argumenten dürften Regierungen ihren Bürgern verbieten, sich dieses Heilmittels zu bedienen, fragt er.
Bislang hätten nur zwei Patienten in der ganzen Republik eine Sondergenehmigung zum Anbau. Daneben gebe es einige, die vom Vorwurf des illegalen Cannabisgebrauchs durch Gerichte freigesprochen wurden; »weil sie es aus Notstandsgründen machen müssen, wegen ihrer Gesundheit«. Einer seiner Patienten habe es per Selbstanzeige geregelt: Er baue selber Cannabis an, ob es sich denn in seinem Fall um einen Strafverstoß handele? Der Prozess habe sich jahrelang hingezogen und mit einem Freispruch geendet.
Frank-Josef Ackerman aus Nieder-Rodenbach durfte nach jahrelangem Kampf um die Ausnahmegenehmigung zum Eigenverbrauch Cannabis anbauen. Er leidet unter einer schmerzhaften Polyarthrose und einem posttraumatischen Belastungssyndrom, weil er bis 2008 für das US-Militär fast 20 Jahre lang in Irak, Afghanistan und Somalia war. Der 47jährige Schmerzpatient hatte Beschwerde eingereicht – erst vor dem Amtsgericht in Darmstadt, dann vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Karlsruher Richter gaben ihm Anfang 2015 recht: Aufgrund seiner schweren Krankheit und seiner Mittellosigkeit sei der Eigenanbau in seinem Fall zu rechtfertigen, so ihr Urteil. Seit Beginn des Jahres 2017 züchtete Ackerman mit offizieller Anbaugenehmigung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte Cannabis. Vor wenigen Tagen, am 30. Juni, wurde seine Genehmigung nicht verlängert. Er klagt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) an: »Hatte er keine Kinderstube und gelernt, dass man Schwachen und Kranken hilft – sie nicht schikaniert und von der Polizei verfolgen lässt?« empörte er sich am Dienstag vergangener Woche gegenüber jW. Schämen solle sich der Minister. »Marihuana in Tablettenform oder das Rezepturarzneimittel Dronabinol helfen mir nicht«, sagt er. Er brauche die ganze Pflanze. Abgesehen davon, sei er in den vergangenen Monaten bei vielen Ärzten gewesen, keiner habe ihm die Substanz verschreiben wollen. Mit der Kostenübernahme durch die Krankenkasse klappe es auch nicht. »Ich gehe wieder bis zum Bundesverfassungsgericht«, schimpft Ackerman.
Presseschau: Warten auf EBM-Ziffer zur Dokumentation (Ärzte Zeitung)
Wieviel darf ein Arzt für seinen Aufwand für die Teilnahme an der Begleiterhebung bei der Verschreibung von Cannabismedikamenten den Krankenkassen in Rechnung stellen? Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein vergütet den Dokumentationsaufwand im Zusammenhang mit der Begleiterhebung mit 4,63 Euro. Der geschätzte Zeitaufwand liegt bei einer sorgfältigen Dokumentation bei mindestens 30 Minuten. Eine Behandlung mit Cannabis ist aus verschiedenen Gründen für Kassenärzte nicht attraktiv.
Warten auf EBM-Ziffer zur Dokumentation
Wie wird der gesetzlich geforderte Dokumentationsaufwand bei einer Cannabistherapie vergütet? An einer EBM-Ziffer arbeiten die Vertragspartner noch. Nur in Nordrhein wird der Aufwand analog über die EBM-Ziffer für einen Krankheitsbericht honoriert.
Seit dem 10. März dieses Jahres haben Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Versorgung mit Cannabinoiden. Konkret ist die Verordnung von Cannabinoiden gemäß Paragraf 31 Absatz 6 SGB V in Form getrockneter Blüten oder Extrakten sowie mit Fertigarzneimitteln möglich, die die Wirkstoffe Dronabinol oder Nabilon enthalten. Zu Lasten der Krankenkassen darf Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung verordnet werden, wenn
- eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann;
- und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
- Vor der erstmaligen Verordnung eines Cannabinoidpräparates muss der Patient jedoch die Genehmigung seiner Krankenkasse einholen. Ärzte, die Cannabinoide verordnen, müssen in der Regel ein Jahr nach dem Behandlungsbeginn oder bei Abbruch der Behandlung bestimmte Daten zum Patienten, zur Diagnose und Therapie in anonymisierter Form an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) übermitteln. Die Patienten sind zu Beginn einer Cannabis-Therapie in einem persönlichen Gespräch auf die gesetzlich vorgeschriebene Datenübermittlung an das BfArM hinzuweisen.
- Fraglich ist jedoch, wie diese von dem Arzt auszufüllenden Begleiterhebungen vergütet werden. Die Vergütungsmöglichkeiten für den Arzt sind bislang noch nicht bundeseinheitlich geregelt. Die meisten Kassenärztlichen Vereinigungen vertreten die Auffassung, dass mangels ausdrücklicher Regelung im EBM jedenfalls bislang keine Vergütung für die Begleiterhebung erfolgen könne. Die KV Nordrhein dagegen vergütet den Dokumentationsaufwand im Zusammenhang mit der Begleiterhebung bereits jetzt analog über die EBM-Ziffer 01621 ("Krankheitsbericht") mit 4,63 Euro.
- Das Bundesministerium für Gesundheit geht davon aus, dass für die erforderliche Datenerhebung im Zusammenhang mit der sozialrechtlich verankerten Cannabisverordnung sowie die entsprechenden Eintragungen (unter anderem auch Verlaufsdarstellungen) in der Arztpraxis ein Mehraufwand von rund 45 Minuten pro Fall anzusetzen ist. Zwar ist vorgesehen, diesen Mehraufwand auch zu vergüten. Umgesetzt ist das bislang aber noch nicht.
- Derzeit verhandelt die Kassenärztliche Bundesvereinigung mit den Krankenkassen, um eine bundeseinheitliche Regelung auf die Beine zu stellen. Innerhalb des nächsten halben Jahres soll hierfür eine EBM-Ziffer gebildet werden. Die Vergütungshöhe dürfte dann voraussichtlich deutlich höher ausfallen als die in Nordrhein derzeit zugestandenen 4,63 Euro.
- Da die Daten an das BfArM grundsätzlich erst ein Jahr nach Behandlungsbeginn zu übermitteln sind, wird in den meisten Fällen die Frage der Vergütung erst im April 2018 bedeutsam. Lediglich in den Fällen, in denen die Behandlung mit Cannabinoiden vorher abgebrochen wird, stellt sich konkret die Frage nach der Vergütung. Betroffenen Ärzten bleibt allerdings nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis eine entsprechende EBM-Ziffer festgelegt wurde.
Einige Pressemeldungen und Informationen der vergangenen Tage
Cannabis wirkt nur in kleinen Mengen entspannend (Spektrum.de)
Freudentränen furs Cannabis-Rezept (Bild)
Aufwendige Prüfung von Cannabisblüten (Deutsche Apotheker Zeitung)
SG Gießen gibt Cannabis-Patient Recht (Kanzlei Menschen und Rechte)