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ACM-Mitteilungen vom 23. Juli 2022

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Liebe Leserin, lieber Leser,

vermehrt werden die Auswirkungen der geplanten generellen Legalisierung in Deutschland auf die medizinische Nutzung der Cannabispflanze diskutiert. Auch das Thema Eigenanbau spielt eine große Rolle.

So heißt es im Deutschen Ärzteblatt: „Konfliktpotenzial innerhalb der Ampelkoalition könnte das Thema Eigenanbau bieten: Während Grüne und FDP den eher liberal handhaben wollen, tendiert die SPD hier eher zu restriktiveren Regeln. (…) Die SPD wiederum habe zum Thema noch keine einheitliche Meinung gebildet, räumte der SPD-Bundestagsabgeordnete Carlos Kasper ein. „Wir können uns aber vorstellen, dass Räume geschaffen werden für den gemeinsamen Anbau.“ Das Modell dieser sogenannten Cannabis Social Clubs gibt es bereits in mehreren Ländern, darunter Uruguay, Spanien und mehreren US-Bundesstaaten.“

Wir sind gespannt und arbeiten weiter daran, dass sich die Situation für Patienten verbessert. Ich bin zuversichtlich, dass dies mit der aktuellen Bundesregierung gelingen kann. Um dieses Thema kümmern sich in allen drei Parteien der Ampel-Koalition engagierte Politiker, allen voran der Drogenbeauftragte der Bundesregierung Burkhard Blienert, der sich seit vielen Jahren mit allen Facetten der Thematik befasst. Ihre Herangehensweise ist angenehm sachlich, unaufgeregt und sorgfältig.

Denn wir wissen: Cannabis ist nicht nur kein Brokkoli, sondern kann vielen Menschen helfen, deutlich mehr als heute legalen Zugang zu dieser Medizin haben.

Viel Spaß beim Lesen!

Franjo Grotenhermen

Presseschau: Prozess in Leonberg - In verzweifelter Lage mit Marihuana experimentiert (Leonberger Kreiszeitung)

Es ist typisch für die aktuelle überholte rechtliche Situation: Viel Verständnis von Seiten der Richterin und eine milde Strafe. Aber warum eigentlich eine Strafe? Wo war hier die kriminelle Handlung, die es strafrechtlich zu verfolgen galt? Das Gesetz, das die beiden Angeklagten gebrochen haben, ist falsch, nicht ihre Handlungen. Die Aussage, dass „der Weg in die Illegalität selbst gewählt gewesen“ sei, mutet zynisch an.

Prozess in Leonberg-In verzweifelter Lage mit Marihuana experimentiert

Die Frau auf der Anklagebank des Leonberger Amtsgerichts ist erkennbar schwer krank. Sie kann nur mühsam laufen, ihre Haut ist gerötet, die Haut an den Händen ist derart verletzt, dass sie weiße Handschuhe darüber trägt. Lupus erythematodes heißt die Autoimmunkrankheit, die die Frau im Jahr 2009 ereilt hat. Die 41-Jährige leidet unter Fieber und Gelenkschmerzen, die Sonne meidet sie, so gut es geht. „Meine Gesichtshaut verbrennt sonst total“, gibt die Frau aus dem Altkreis der Vorsitzenden Richterin Sandra De Falco und den beiden Schöffen Einblick in ihre Leidensgeschichte.

Arbeiten kann die dreifache Mutter schon seit vielen Jahren nicht mehr, sie lebt von einer Erwerbsunfähigkeitsrente. Ihr Mann pflegt sie rund um die Uhr. Diesem Ehepaar warf die Staatsanwaltschaft Drogenhandel in größerem Stil vor. Bei einer Hausdurchsuchung im Mai vergangenen Jahres fanden die Beamten im Keller drei sogenannte Growboxen, in denen Marihuana gezüchtet wurde. Rund 270 Gramm des Rauschgifts beschlagnahmten die Beamten, das Landeskriminalamt stellte im Labor einen vergleichsweise hohen Wirkstoffgehalt zwischen sieben und 19 Prozent THC fest.

Cannabis als Medizin

Unumwunden gaben die beiden Angeklagten den Anbau von Marihuana in ihrem Keller zu. „Wegen der Krankheit wurde unter ärztlicher Aufsicht mit vielen Medikamenten herumexperimentiert. Irgendwann probierten beide Marihuana aus, wie viele andere kranke Menschen auch“, erklärte Rechtsanwältin Kristina Brandt. Es habe im Körper Bereiche gegeben, die gut auf die Cannabinoide ansprächen. Da Marihuana schwer zu besorgen sei, hätten sie für den Eigenbedarf die Pflanzen im Keller angebaut. „Ich habe zwei Minuten im Internet recherchieren müssen, um mehrere Samenhersteller zu finden“, erklärte der 43-jährige Ehemann.

Er habe mit einer Pflanze angefangen, nach mehreren Rückschlägen habe es immer besser geklappt. „Meine Frau braucht circa 30 Gramm pro Monat, die mit einem Vaporisateur verdampft werden. Diese Menge habe ich immer vorrätig zu halten versucht“, erklärte der Mann, der einräumte, dass er die gesamte Aufzucht und Pflege übernommen habe, da seine Frau ihre Händen nicht in Erde stecken könne. Die drei Kinder hätten von allem nichts gewusst, der Keller sei stets abgeschlossen gewesen. Zum Trocknen habe man die Cannabisblüten in Kartons gelegt, die im Schlafzimmer versteckt gewesen seien. Beide bestritten jedoch vehement, mit dem Marihuana Handel getrieben zu haben.

Freundinnen der Tochter erzählten Polizei von Cannabis-Plantage

Auf welch kuriose Weise die Polizei dem Ehepaar auf die Spur kam, schilderte ein Kriminalbeamter. Zwei Klassenkameradinnen der Tochter seien wegen Ladendiebstahls auf dem Polizeirevier gewesen und hätten beiläufig erwähnt, dass die Tochter von einer Cannabis-Plantage in ihrem Keller erzählt habe. Da sie das nicht glauben wollten, hätte diese ihnen über das soziale Netzwerk Snapchat sogar ein Beweisfoto geschickt. Er habe dann den Stromverbrauch in der Wohnung des Ehepaares überprüft und dabei festgestellt, dass dieser deutlich über dem normalen Durchschnitt einer fünfköpfigen Familie liege. „Weil das Ganze dann plausibel schien, haben wir im Mai vergangenen Jahres eine Hausdurchsuchung veranlasst, bei der die Plantage im Keller gefunden wurde“, berichtete der Beamte. Staatsanwalt Marco Pattis ließ in seinem Schlussplädoyer den Vorwurf des Drogenhandels fallen und plädierte auf Bewährungsstrafen von acht Monaten für die Frau und zehn Monaten für den Mann wegen unerlaubten Besitzes von Rauschgift in nicht geringer Menge.

Die Verteidiger des Ehepaares hielten nur vier Monate für angemessen. „Meine Mandantin leidet unter einem desolaten Gesundheitszustand ohne Aussicht auf Besserung und hat eine ziemliche Odyssee bei teilweise ratlosen Ärzten hinter sich“, sagte Rechtsanwältin Brandt. Rechtsanwalt Martin Blume erklärte, moralisch habe er sogar Verständnis für die Tat.

Leidensgeschichte spricht für sich

Am Ende verurteilte das Schöffengericht den Mann zu einer achtmonatigen Bewährungsstrafe, die Frau zu sechs Monaten Haft auf Bewährung, sah ansonsten aber von Geld- oder Arbeitsauflagen ab. „Ihre Geständnisse und Ihre Leidensgeschichte sprechen für Sie“, meinte die Vorsitzende Richterin Sandra De Falco. Allerdings sei der Weg in die Illegalität selbst gewählt gewesen. Beiden stellte sie jedoch eine positive Sozialprognose aus – vor allem, weil die Frau nunmehr knapp 20 Gramm Marihuana monatlich von ihrem Hausarzt verschrieben bekommt.

Presseschau: Cannabis auf Kasse: Auch das Nürnberger Sozialgericht weist viele Klagen ab (Nordbayern)

Es ist nicht einfach für Cannabispatienten, vor den Sozialgerichten Recht zu bekommen und damit die Illegalität verlassen zu können.

Cannabis auf Kasse: Auch das Nürnberger Sozialgericht weist viele Klagen ab

Seit fünf Jahren gibt es in Deutschland, auf Kosten der Kassen, medizinisches Cannabis. Aber wer kriegt es? Urteile der Sozialgerichte zeigen: Die begehrte Arznei gibt's nicht immer. In Nürnberg passiert das fast jede Woche.

Cannabis als Medikament:

Seit März 2017 gibt es medizinisches Cannabis, die Nachfrage ist seither stark gestiegen.

Klage abgewiesen:

Schier jede Woche, so stellt es Uta Rauschert fest, weist das Sozialgericht Nürnberg Kläger ab. Die Sprecherin des Sozialgerichts ist selbst Richterin, auch sie befasst sich regelmäßig mit Klägern, die gegen ihre Krankenkassen antreten, weil sie sich Medizinal-Cannabis auf Kasse wünschen. Die Richter führen keinen Glaubenskrieg für oder gegen die Legalisierung von Cannabis. Doch meist lehnen sie den Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis ab. Denn die Voraussetzungen sind sehr eng.

Die aktuelle Gesetzeslage findet sich im Sozialgesetzbuch V (§ 31, Absatz 6): Demnach darf ein Cannabis-Arzneimittel nur verschrieben werden, wenn nicht eine andere "allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung" zur Verfügung steht.

In veröffentlichten Gerichtsentscheidungen wird eben diese Gesetzeslage ständig zitiert. So wies das Sozialgericht Karlsruhe (Az.: S 15 KR 2520/20) die Klage eines 27-jährigen Mannes ab, bei dem mehrere Ärzte ein chronisches Schmerzsyndrom diagnostiziert hatten. Verschiedene Schmerzmittel linderten die Probleme an Rücken und Beinen nicht, der letzte behandelnde Mediziner verordnete ein Mundspray mit Cannabis-Extrakten. Der Patient bekundete, sich besser zu fühlen, die Kasse verweigerte die Kostenübernahme. Alternative Behandlungsmöglichkeiten (Reha, Psychotherapie und aktivierendes Training) seien noch nicht ausgeschöpft.

Cannabis statt Alkohol:

Auch in einem Urteil des Hessischen Landessozialgericht (Az.: L 1 KR 429/20) findet sich diese Begründung. Ein 70-Jähriger hatte bei seiner Kasse die Versorgung mit Cannabisblüten beantragt. Nur damit könne er seinen Drang zum Alkoholkonsum ("Saufdruck") kompensieren, argumentierte er. Die Krankenkasse empfahl ihm eine Entwöhnungstherapie. Auch für das Gericht stand außer Frage: Möglich seien Reha-Maßnahmen, medikamentöse Rückfallprophylaxe und Psychotherapie.

Medizinal-Cannabis auf Kassenkosten:

Bei der ersten Verordnung muss die Kasse zuvor ihrer Genehmigung erteilen, so steht es im Gesetz. Das heißt: Stimmt die Krankenkasse zu und kommt für die Kosten auf, gilt diese Kassenleistung für den Patienten ein Leben lang. Doch häufig verweigern die Krankenkassen die Kostenübernahme, auf der Seite www.arbeitsgemeinschaft-cannabis-medizin.de wurden zahlreiche Entscheidungen gesammelt.

Wäre mit diesen Klagen Schluss, wenn Cannabis legalisiert würde?

In ihrem Koalitionsvertrag haben die Ampel-Parteien vereinbart, eine "kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften" einführen zu wollen. Die Idee ist, dass kontrollierter staatlicher Verkauf auch Kontrollmöglichkeiten für die Qualität und den Wirkstoff bedeutet und mehr Sicherheit für die Konsumenten bringt. Die Regierung will in der zweiten Jahreshälfte einen Gesetzesentwurf vorlegen. Mit den Prozessen, die Versicherte gegen ihre Krankenkassen führen, hat dies nichts zu tun.

Streit nur um die Kosten:

Seit medizinisches Cannabis vor fünf Jahren erlaubt wurde, darf es von Ärzten verschrieben werden, etwa zur Schmerzlinderung bei Schwerkranken. Seither hat das Mittel einen Boom erlebt. Damit kein Missverständnis entsteht: Niemand will erkrankten Menschen, die etwa zur Linderung ihrer Schmerzen kiffen, Cannabis wieder wegnehmen. Die Richter wähnen sich nicht als bessere Ärzte und gestritten wird vor den Sozialgerichten nicht über die medizinische Kompetenz des Arztes, sondern allein um die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen – sprich, über die Rechnung für die Solidargemeinschaft der Versicherten.

Das Thema sei sehr viel komplexer als die derzeit geführte Debatte, kommentiert Uta Rauschert. So sieht das Gesetz für die Cannabis-Arznei zwar die Einschränkung der Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasssen in Bezug auf schwerwiegende Krankheiten vor: Dieser unbestimmte Rechtsbegriff wird aber von jedem Arzt anders ausgelegt – obgleich das Bundessozialgericht diesen Begriff extrem eng definiert hat. Medizinisches Cannabis wird daher häufig bei jeder Erkrankung verschrieben, ob es sich um den Grünen Star, Asthma, Krebs oder ein Reizdarmsyndrom handelt. Auch verlangt das Gesetz keine besonderen Fachärzte: Jeder Arzt kann es verschreiben, ob Orthopäde oder Neurologe.

"Nebenwirkungen":

Ärzte, die Medizinal-Cannabis verordnen, müssen in Arztfragebögen darlegen, dies verlangt das Gesetz, wie und warum die schulmedizinische Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Sie müssen auch mögliche Nebenwirkungen von Cannabis berücksichtigen, so das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (Az.: L 5 KR 125/18).

Auch diese Urteilsbegründung lässt ahnen, warum Kassenpatienten, die auf Übernahme der Kosten klagen, so häufig von den Sozialgerichten abgewiesen werden: Der Gesetzgeber fordert eine medizinisch begründete Einschätzung, doch diese fällt häufig dürftig aus und genügt den rechtlichen Anforderungen nicht. Der Patient habe eben die früheren Medikamente "nicht vertragen", reicht als Erklärung nicht aus.

Kein Arzneimittel im Sinn des Gesetzes:

Kein Patient, der die Cannabis-Arznei erhält, verlässt die Apotheke mit einem Joint. Verschrieben wird es in Form von getrockneten Blüten oder als Cannabisextrakt in pharmazeutischer Qualität. Die Bundesopiumstelle meldet steigende Zahlen: 2020 wurden rund 12 Tonnen Cannabis zur medizinischen und wissenschaftlichen Nutzung importiert, 2021 waren es rund 20,6 Tonnen.

Rund 200 Millionen Euro haben die gesetzlichen Krankenkasse im Jahr 2020 für das Produkt ausgegeben. Zwischen 15 und 25 Euro pro Gramm kosten Cannabisblüten in der Apotheke. Es fließt also viel Geld – aber was ist mit der medizinischen Wirkung? Die Bundesopiumstelle, so ist auf deren Homepage zu lesen, führt seit 2017 eine Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln durch, "um weitere Erkenntnisse über die Wirkung von Cannabis als Medizin zu gewinnen".

In anderen Worten:

Ein zugelassenes Arzneimittel ist Cannabis bisher nicht. Am ehesten ist die Wirkung von Cannabis bei Schmerzen belegt, doch noch liegen nicht zu jeder Krankheit Studien über die Wirksamkeit von Cannabis vor.

Pressschau: Cannabis­Legalisierung: Genussmittel und Medizin zusammen denken (Deutsches Ärzteblatt)

Die Legalisierung von Cannabis wird die Situation der Patienten in Deutschland beeinflussen. Das wissen wir aufgrund von Entwicklungen in Kanada und den USA. Wie der Einfluss konkret aussehen wird, hängt stark vom Gesetzestext ab.

Cannabis­legalisierung: Genussmittel und Medizin zusammen denken

Die Ampelkoalition will bei der Freigabe von Cannabis als Genussmittel auch die Auswirkungen auf die Versorgung mit Medizinalcannabis berücksichtigen und wichtige Weichenstellungen für sie beachten. Das erklärten Vertreter der Regierungsparteien gestern bei der International Cannabis Business Conference (ICBC) in Berlin.

Bis es so weit ist, werde es aber noch dauern, räumte der Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Burkhardt Blienert (SPD), ein. „Manchen geht es nicht schnell genug“, sagte er mit Blick auf den öffentlichen Druck, der bei dem Thema auf ihn ausgeübt werde. „Jeder, der etwas Ahnung von politischen Prozessen hat“, müsse wissen, dass ein so komplexes Vorhaben, an dem so viele Ressorts von Gesundheit über Finanzen bis Justiz und Landwirtschaft beteiligt seien, nun einmal dauere.

Er rechne damit, dass das Bundesgesundheitsministerium (BMG) im dritten oder vierten Quartal ein Eckpunktepapier auf Grundlage des jüngst abgeschlossenen Konsultationsprozesses vorlegt und einen Gesetzesentwurf Ende 2022 oder Anfang 2023. „Es ist 2023 im Parlament“, so viel stehe fest. Wann das Gesetz verabschie­det wird und wann es dann in Kraft tritt, könne angesichts des komplexen Gesetzgebungsverfahren nicht vorhergesagt werden.

Fundamentaler Paradigmenwechsel in der Drogen- und Gesundheitspolitik

Die Bundesregierung wolle sich diese Zeit jetzt nehmen. „Wir wollen es gründlich und ordentlich machen“, sagte Blienert. „Ich will kein Gesetz, das wir danach ständig überarbeiten oder korrigieren müssen.“ Zahlreiche komplizierte Punkte müssten dazu noch geklärt werden, etwa Anbau, Lieferketten, Produktsicherheit, rechtli­che und gesundheitliche Fragen, Besteuerung, Lizensierung und Ausgestaltung der geplanten Fachgeschäfte, aber auch konkrete Fragen wie die nach THC-Obergrenzen und Höchstverkaufsmengen.

Bei der geplanten Reform gehe es um nicht weniger als einen fundamentalen Paradigmenwechsel in der Dro­gen- und Gesundheitspolitik. „Mir ist wichtig, dass wir von dem Grundsatz Strafe wegkommen“, sagte Blienert. „Schutz und Hilfe, statt Strafe“ sei für ihn die Grundlage einer modernen Drogen- und Gesundheitspolitik. „Wir wissen, dass, wenn wir Drogenpolitik mit Gesundheitspolitik verbinden wollen, neue Wege gehen müssen.“

Das sei kein Alleinstellungsmerkmal Deutschlands, im Gegenteil würden die politischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Debatten in nahezu allen westlichen Industriestaaten zeigen, dass global ein Umdenken stattfindet: die Einsicht, dass die Prohibitionspolitik der vergangenen Jahrzehnte an ihr Ende kommen muss.

„Nur der Wechsel zu einer gesundheitsorientierten Drogenpolitik bringt uns weiter.“Drogenbeauftragter der Bundesregierung, Burkhardt Blienert

„Das, was ist, ist gescheitert“, sagte Blienert. „Nur der Wechsel zu einer gesundheitsorientierten Drogenpolitik bringt uns weiter.“ An Stelle der Kriminalisierung müsse die Schadensminimierung für Konsumierende treten. „Keiner kann außer Acht lassen, dass der Genuss von Rauschmitteln, dass der Genuss von psychoaktiven Subs­tanzen bei missbräuchlichem Konsum wie bei vielen anderen Stoffen gesundheitsschädlich ist“, sagte Blienert.

Als sei das Unterfangen Legalisierung nicht schon komplex genug, müssen dabei auch noch die Auswirkungen auf die Versorgung und Verfügbarkeit von medizinischem Cannabis mitbedacht werden, betonten Vertreter der drei Regierungsparteien unisono. Die jüngst veröffentlichte Begleiterhebung mit ihren „schwammigen Daten“ helfe jedenfalls nicht viel weiter, sagte Kristine Lütke, Mitglied im Bundesgesundheitsausschuss und drogen­politische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion.

„Durch die Legalisierung erhoffen wir uns auch eine bessere und breitere Datenbasis für die Anwendung von medizinischem Cannabis“, erklärte sie. Patienten müssten unbedingt auch nach der Legalisierung noch die Möglichkeit zur Erstattung von Medizinalcannabis durch die Krankenkassen haben.

Und die müsse reformiert werden, insbesondere die restriktive Handhabung von Kostenübernahmeanträgen durch den Medizinischen Dienst (MDK). „Es ist wichtig, dass wir nochmal an den Genehmigungsvorbehalt rangehen“, kündigte Lütke an. „Da müssen wir auch nochmal auf den G-BA zugehen.“

Die restriktive Ausgestaltung des Cannabis-als-Medizin-Gesetzes von 2017 habe auch Auswirkungen auf die Versorgung und den Zugang, hatte kurz zuvor der Cannabisregulierungsexperte Peter Homberg von der internationalen Wirtschaftskanzlei Dentons erklärt. „Das Medizinalcannabisgesetz wurde sehr schnell erarbeitet und enthält viele Leerstellen und Graubereiche“, kritisierte er.

Das lasse sich auch an den Patientenzahlen ablesen: Rund 80.000 betrage die in Deutschland. Dabei sei zuvor eine Entwicklung ähnlich der in Kanada erwartet worden, wo die Zahl der Patienten bei rund einem Prozent der Bevölkerung liege. Sie müsste in Deutschland demnach eher 800.000 betragen. „Diese Zahl werden wir wahrscheinlich nie erreichen“, räumte er ein.

Eigenanbau birgt Konfliktpotenzial

Konfliktpotenzial innerhalb der Ampelkoalition könnte das Thema Eigenanbau bieten: Während Grüne und FDP den eher liberal handhaben wollen, tendiert die SPD hier eher zu restriktiveren Regeln. Hinzu kommt die Frage, ob der Anbau unter freiem Himmel ermöglicht oder aus Sicherheitsgründen nur Innenanlagen erlaubt werden. Das könnte angesichts von legalem Genusscannabis aber unnütze Vorsicht sein, mahnte der grüne Bundestagsabgeordnete und Landwirtschaftspolitiker Karl Bär: „Ich denke, das wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“

Die SPD wiederum habe zum Thema noch keine einheitliche Meinung gebildet, räumte der SPD-Bundestags­ab­geordnete Carlos Kasper ein. „Wir können uns aber vorstellen, dass Räume geschaffen werden für den ge­meinsamen Anbau.“ Das Modell dieser sogenannten Cannabis Social Clubs gibt es bereits in mehreren Ländern, darunter Uruguay, Spanien und mehreren US-Bundesstaaten.

Ziel sei nun, all diese Fragen zwischen den zahlreichen Beteiligten aus Regierung und Parlament zu klären und bis zum Ende des ersten Quartals den Gesetzentwurf abzuschließen, kündigte Lütke an und stimmte Kasper zu: „Die Fortschrittskoalition will den großen Wurf und wird ihn auch in diesem Jahr noch auf den Weg bringen.“

Presseschau: Firmen könnten sich vom Medizinalcannabis abwenden (Deutsche Apotheker Zeitung)

Auch in der Deutschen Apotheker Zeitung werden die Auswirkungen der geplanten Legalisierung in Deutschland auf die medizinische Verwendung thematisiert.

Cannabis-Legalisierung: Firmen könnten sich vom Medizinalcannabis abwenden

Nach der Legalisierung in Kanada zerbrach der dortige Medizinalcannabis-Markt, berichteten Hersteller auf der Cannabis-Messe ICBC in Berlin. Konsumenten und Firmen wendeten sich dem Freizeitmarkt zu – auf Kosten der Forschung und Arzneimittelversorgung. In Deutschland herrschen andere Bedingungen. Doch für Hersteller und Patienten zeichnet sich ein Wandel ab.

Laut Experten behandeln Mediziner:innen in Deutschland rund 80.000 Patienten und Patientinnen mit medizinischem Cannabis. Ihnen blüht bald ein Wandel: Die Legalisierung von Cannabis zu Genusszwecken, die die Bundesregierung in Bälde ermöglichen will.

Auf der International Cannabis Business Conference (ICBC) am 19. und 20. Juli in Berlin schätzten Experten: Viele Patienten werden auf Freizeit-Cannabis umsteigen, eventuell sogar die Hälfte der Betroffenen. Dies war auch in Kanada der Fall, als das Land im Jahr 2018 „Gras“ freigab. Viele Patienten, die auf medizinische Hilfe angewiesen sind, „therapieren“ sich dort nun selbst.

Hersteller wechseln zum Freizeitmarkt

Die Erfahrungen aus dem nordamerikanischen Staat deuten darüber hinaus ein weiteres Problem an. In Kanada zogen sich nach der Legalisierung viele Cannabis-Unternehmen aus dem Arzneimittel-Sektor zurück. Denn plötzlich winkte ein neuer Absatzmarkt, der ohne kostspielige GMP-Regulatorik und Sicherheitsvorkehrungen auskam.

Alex Revich erzählte auf der ICBC, was er in Kanada in den vergangenen Jahren beobachtete. Revich arbeitet bei der kanadischen Apothekenkette Hybrid Pharm, die sich auf medizinisches Cannabis spezialisiert hat. „Mit der Legalisierung zeigt sich schnell, welchen Unternehmen Cannabis als Medizin am Herzen liegt. Viele stürzen sich sofort auf den Genussmittelmarkt.“

Ein Problem liegt für Revich in Kanada darin, dass Freizeit-Cannabis nicht über Apotheken abgegeben werden darf. Zugleich dürfen die lizenzierten Abgabestellen keine Beratung für Erkrankte anbieten. Doch gerade Vorerkrankte, die Cannabis ausprobieren möchten, benötigen eine medizinische Beratung. Alex Revich setzte sich damals dafür ein, legales Cannabis über Apotheken in Umlauf zu bringen. Dass dies in Deutschland möglich sein könnte, ist für ihn ein riesiger Vorteil.

Rückzug aus der Forschung befürchtet

Ein Unterschied zwischen dem nordamerikanischen Staat und Deutschland: Hierzulande ist seit 2017 Cannabis bei bestimmten Indikationen erstattungsfähig. Wer Cannabis als Arzneimittel vertreibt, hätte somit noch immer einen Absatzmarkt. Aber auf der Messe in Berlin erklärten Experten: Einigen Patienten bleibt der Zugang zur grünen Medizin verwehrt. Viele Erkrankte beantragen bei ihrer Krankenkasse, die Kosten für ihre Cannabis-Therapie erstattet zu bekommen. Die Kassen lehnen jedoch 40 Prozent der Anträge ab. Denn in einigen Bereichen ist die Evidenzlage noch umstritten.

Neben Revich saß Diane Scott auf dem Podium. Sie ist Geschäftsführerin der JMPCC-Group, die medizinisches Cannabis in Jamaika anbaut und exportiert – auch nach Deutschland. Auch sie beklagte, dass sich viele Medizinalcannabis-Firmen dem Freizeitmarkt zuwendeten.

Infolgedessen würden Patienten nicht ausreichend versorgt. Zusätzlich investierten viele Unternehmen weniger Geld in die medizinische Forschung. Das könnte auch in Deutschland passieren, warnt Scott. Ihr Vorschlag: „Die deutsche Regierung sollte Steuergelder, die sie bei der Cannabisabgabe einnimmt, in die medizinische Cannabis-Forschung investieren.“

Drohen Cannabis-Lieferengpässe?

Wird auch in Deutschland die Industrie Cannabis als Arzneimittel nach der Legalisierung vernachlässigen? Das wollte die DAZ von Alain Menghé wissen. Bis 2012 arbeitete er bei der AOK. Später gründete er Lio Pharmaceuticals, die medizinisches Cannabis in Deutschland vertreiben.

Auch er kritisiert, dass die Industrie längst mehr zur Cannabis-Forschung hätte beitragen müssen, die auch dem Freizeit-Cannabismarkt helfen würde. Viele Firmen mieden jedoch die teuren Investitionen. Er fordert nun klare Rahmenbedingungen von der Politik.

Dass es nach der Legalisierung zu Versorgungsengpässen kommen könnte, weil Hersteller sich auf Genussmittel-Cannabis konzentrieren wie in Kanada, glaubt er nicht. „Wenn in Deutschland ein Patient ein Arzneimittel benötigt, dann bekommt er es auch“, kommentierte Menghé. Wer hierzulande als Apotheker tätig ist, würde dem widersprechen: Lieferengpässe waren und sind ein Problem für Patienten, ob beim Medizinalcannabis, Zytostatika, Antibiotika oder OTC-Fiebersäften.

Presseschau: Netzwerk für Cannabis in der Medizin ins Leben gerufen (Ärztezeitung)

Ein informelles Netzwerk von Wissenschaftlern, die sich mit medizinischen Aspekten von Cannabinoiden befassen, will den internen Austausch erleichtern und ansprechbar für Fragen rund um das Thema sein.

Netzwerk für Cannabis in der Medizin ins Leben gerufen

Rund um das Thema Cannabis in der Medizin gibt es einen großen Informationsbedarf: Im Mittelpunkt eines neu gegründeten Netzwerks steht der Austausch über Forschungsprojekte und medizinische Fragen

Rund um das Thema Cannabis in der Medizin gibt es einen großen Informationsbedarf, weiß Dr. Franjo Grotenhermen, Leiter des Zentrums für Cannabismedizin im westfälischen Steinheim. Nicht nur für Laien ist es oft schwierig, die richtige Expertise zu finden. Das liegt nach seiner Einschätzung auch an einer Entwicklung, die das Inkrafttreten des Gesetzes „Cannabis als Medizin“ im März 2017 ausgelöst hat. „Es gibt seit fünf Jahren massenhaft Experten zu Cannabis, die man vorher nicht gekannt hat.“

Hier will Grotenhermen für Abhilfe sorgen. Mit Kolleginnen und Kollegen hat er in diesem Frühjahr das „Wissenschaftsnetzwerk Cannabinoide in der Medizin“ ins Leben gerufen. Die meisten sind Mediziner, mit Professor Volker Auwärter von der Uniklinik Freiburg ist aber auch ein Toxikologe mit an Bord. Jedes der sieben Gründungsmitglieder hat einen anderen Schwerpunkt beim Thema Cannabinoide in der Medizin.

Lockerer Verbund steht anderen offen

„Mit dem Netzwerk wollen wir vor allem den informellen Austausch erleichtern, etwa über Forschungsprojekte“, sagt Grotenhermen der „Ärzte Zeitung“. Man habe sich bewusst für einen lockeren Verbund und gegen die Gründung eines Vereins entschieden. Der Verbund steht weiteren Interessenten offen.

Das Netzwerk versteht sich als Anlaufstelle, das Interessenten jeweils die richtigen Ansprechpartner vermittelt, da diese für Außenstehende oft schwer zu finden seien. Das Angebot richtet sich sowohl an Mediziner und andere Wissenschaftler als auch an Vertreter von Politik, Medien oder Industrie. „Es gibt sehr gute Experten, aber häufig sind sie über den kleinen Kreis hinaus nicht bekannt.“ Um politische Themen wie die Legalisierung von Cannabis will sich das Netzwerk nicht kümmern. „Uns geht es um wissenschaftliche Fragen“, betont er.

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Einige weitere Pressemeldungen der vergangenen Tage

Drogenbeauftragter will über Obergrenze bei THC reden (Ärzteblatt)

Cannabis: Was taugt THC als Medizin? (Heise)

Beim Hanf stochern die Ärzte im Nebel (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Wissenschaftsnetzwerk Cannabinoide in der Medizin (WCM) gegründet (Kraut in Vest)

Netzwerk für Cannabis in der Medizin ins Leben gerufen (Ärzte Zeitung)

Akzeptieren statt kriminalisieren (DomRadio)